Liebe Henriette,
ich hatte Glück und gute Eltern. Jetzt denkst Du, was für ein Quatsch! Nein, kein Quatsch. Denn ich war meinen Eltern nie egal, sie haben sich gekümmert, sie wollten, dass ich mein Leben meistere. Dass dabei nicht alles so läuft, wie es für eine empfindliche Kinderseele sein sollte, ist halt so.
Mein Vater war für mich der Mann, der arbetiete und das Geld verdiente. Er kümmerte sich um seine Familie, auch um die Kinder und wenn man ihn brauchte, war er zur Stelle. Ich konnte mich immer auf ihn verlassen, er war eine Konstante in meinem Leben und hielt immer zu mir. Dennoch wirkte er als Kind auf mich ein wenig unerreichbar. Er machte eben sein Ding, aber er war vielleicht nicht so zugewandt, wie ich es mir gewünscht hätte. In mancher Hinsicht blieb er mir immer ein wenig fern.
Daher auch mein Männerbild. Die eher ruhigen, zurückhaltenden und ein wenig unduirchschaubaren Männer ziehen mich an, aber niemals die lauten und von Geltungssucht dominierten.
Da kann ich ihm keinen Vorwurf machen, denn er ist halt nun mal so wie er ist.Er wurde ja auch geprägt von seiner Erziehung, einer fürsorglichen Mutter und einem strengen Vater, der seinen Kindern nicht viel durchgehen ließ, was bei 7 Kindern auch kein Wunder ist.
Meine Mutter litt, so denk ich heute, unter vielen Schicksalsschlägen. Sie war neun Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und Schwester kurz nach dem Krieg die Heimat verlassen musste, denn die Tschechen hatten sie vertrieben. Sie kamen in Westdeutschland an und wohnten die ersten Jahre in Baracken, ehe sie in eine winzige Wohnung umziehen konnte. Ihr älterer Bruder war in Rumänien gefallen und der Vater in russicher Kriegsgefangenschaft in Sibirien, Er kam erst sehr spät zurück und fand seine Familie mit Hilfe des roten Kreuzes. Mein Opa mütterlicherseits starb, als ich 6 oder 7 Jahre alt war. Meine Mutter hatte ihre Mutter verloren, als sie 16 war. Sie war an Darmkrebs gestorben. Wenn sich dieses Leben, das sie in jungen Jahren mitmachen musste, vor Augen hält, kann man verstehen, dass da einiges nachwirkt. Kriegstraumen steuern die Menschen, aber das wusste man damals noch nicht, Es ging nur darum, die Zähne zusammen zu beißen, nicht zu jammern und alles ertragen zu müssen.
Ich machte eher mir Vorwürfe, dass ich über Jahre nicht verständnisvoller ihr gegenüber war. Aber früher wusste ich es nicht besser. Ich kannte die Zusammenhänge noch nicht, das erschloß sich mir erst später durch entsprechende Bücher.
Ich denke, Du darfst von Deinen Eltern nicht erwarten, dass sie Dich sozusagen fehlerfrei erziehen können. Auch Erwachsene schleppen oft viel an Kindheitserfahrungen mit sich, sie wurden vielleicht geprügelt, hatten Eltern, die auch schon deformiert waren und was man nicht kennt, kann man nicht weiter geben.
Es tut auch nicht gut, sich innerlich gegen die Eltern zu stellen. Das nagt irgendwo unterschwellig am Gewissen.
Akzeptieren was war, auch wenn Manches nicht gut lief. Und auch gegenüber den Eltern nachsichtig sein, denn die haben ja auch ihre Verletzungen und Defizite, die sie unbewusst weiter geben. Sie haben getan was sie konnten und wenn es nicht gut genug war, dann war es eben so.
Du hast einen Beruf, Du bist klug und intelligent, also kann ja nicht alles schlecht gewesen sein. Und außerdem kannst Du es eh nicht ändern.Also warum deswegen hadern?.
Keiner kommt ganz unbeschadet durch die Kindheit. Und es gibt viel schlimmere Fälle wie Kindesmissbrauch oder Gewalterfahrunen, die viel schlimmere Nachwirkungen haben.
Sieh es als Aufgabe des Lebens, Dein Männer- und vor allem Dein Selbstbild gerade zu rücken. So was, was Dir widerfahren ist mit diesem Abgott, sind einfach Fingerzeige des Lebens, dass man sich darum kümmern sollte.
Mein PT hat damals noch zwei Dinge gesagt, die mir im Gedächtnis blieben.
Was ein Kind als belastend empfindet und wie es damit umgeht, ist sehr verschieden. Was ein Kind schon fast als traumatisch empfindet, darüber setzt sich ein anderes leicht hinweg. Wenn Du ein empfindsames und sensibles Wesen hast, dann machen Dir manche Dinge mehr zu schaffen als anderen. Dafür bist Du vlt. auf der Fühlebene besonders gut ausgestattet und kannst vlt. Gefühle intensiver spüren als andere. Etwas, was Dir jetzt als negatv erscheint, hat auf der anderen Seite auch positive Aspekte.
Defizite, wie sie bei Dir, bei mir und bei vielen auftreten, werden ja oft ins Unterbewusstsein verschoben. Von da wirken sie unbemerkt, steuern aber einen Großteil des Verhaltens. Wenn Du den Dingen auf den Grund gehst und Zusammenhänge herstellst, holst Du die Dinge auf die bewusste Ebene und da richten sie weniger Schaden an. Du kennst Dich besser, weiß, wo Du gefährdet bist und kannst besser auf Dich acht geben. Du bist dann mehr bei Dir. Die Dinge sind damit nicht weg, aber Du weißt Bescheid, worauf Du ansprngst.
Daher finde ich es toll, wenn Du jetzt mit Dir weiter kommen willst. Du machst Dir damit Dein Leben entschieden leichter.
Sieh es mal so: Deine Eltern haben beim Hausbau (=Erziehung, Betreuung etc.) Fehler gemacht, aber nicht unbedingt böswillig. Sie hatten nicht mehr Geld und Mittel, um dem Haus den letzten Schliff zu geben.Jetzt ist es Deine Aufgabe, die Baustelle aufzuräumen mit dem Ziel, dass Du angenehmer darin wohnen kannst.
Alles hat seine zwei Seiten und alles was Dir negativ erscheint, hat irgendwo auch etwas Positives.
Begonie
16.11.2020 14:32 •
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