Ich habe sie pünktlich um 12 Uhr angerufen, wir haben bis etwa 13:20 Uhr telefoniert. Durch die Medikamente war meine Heiserkeit weitestgehend verschwunden, ich konnte also wieder normal mit ihr reden. Sie hat seit gestern eine Angina, will aber trotzdem arbeiten gehen. Sie hat mir vorgeworfen, ich würde zuwenig auf sie eingehen oder sie nach ihrer Meinung fragen, ich muss mir selbst eingestehen, daß sie damit ein bißchen Recht hat. Ich hatte immer den Eindruck, sie intuitiv einfach auf Anhieb zu verstehen und sozusagen ihre Gedanken zu erfassen, ich wäre mir teilweise doof vorgekommen groß nachzufragen, weil ich immer dachte ich hätte sie bereits verstanden. Sie hat mir von der Musikschule erzählt, die sie seit einer Weile nicht mehr besucht und von ihrem Theaterkurs. Nach einer Weile habe ich mich überwunden und ihr von meinem leiblichen Vater erzählt, der nach einigen Jahren in der Psychiatrie jetzt in München lebt und mit dem ich bis auf ein Telefonat alle paar Monate nichts zu tun habe. Sie konnte nicht so recht verstehen, wieso ich ihr davon nichts erzählt habe. Ich kam mir wieder so blöd vor, weil es mir teilweise gereicht hat, einfach nur ihre Nähe zu spüren, kürzeres Schweigen habe ich nicht als beklemmend empfunden. Am Sonntag fährt sie mit dem Zug weg und läßt sich und ihr Gepäck von einer Freundin zum Bahnhof bringen. Ich war mir einen Moment lang unsicher, ob ich sie fragen sollte, wie es denn wäre, wenn ich sie verabschieden würde, tat es schließlich doch. Sie meinte, daß das ein bißchen blöd wäre, da sie ja von ihrer Freundin hingebracht wird. Gegen Ende des Telefonats habe ich sie gefragt, was sie denn jetzt über uns denke, Ich weiß nicht. Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht war die Antwort. Obwohl ich an die 80 Minuten mit ihr gesprochen habe, hätte ich wohl noch ewig weitertelefonieren können. Am Nachmittag arbeitet sie. Gegen 21 Uhr werde ich sie nochmal anrufen, das habe ich mit ihr ausgemacht. Praktisch minütlich wechseln meine Gefühle zwischen Verzweiflung und Zuversicht. Schreckliche Tage sind das.
Es ist 17 Uhr und ich fühle mich grässlich. Ich höre Blues-Musik. Draußen ist es duster, Regen fällt. Die Wohnung ist verlassen, der Rest der Familie ist verreist. Zum ersten Mal seit mehreren Jahren bin ich den Tränen nahe. (geweint habe ich aber nicht) Ich fühle mich entsetzlich allein. Jerry Lee Lewis - Mean Woman Blues, wie passend. Mein Schmerz ist gleichbleibend und heftig. Ich weiß nichts mit mir anzufangen, lesen, fernsehen, Videoschnitt, essen, all das erscheint mir so vollkommen sinnlos und unangebracht. Ich friere und habe mich in eine Decke eingehüllt. Die Decke, auf der sie so oft mit mir saß. Wenn ich mich konzentriere, kann ich den zarten Schauma-Geruch an den Rändern der Decke erfassen, der so charakteristisch für sie ist. Für ihr Haar. Das durch meine Hände glitt. Das tut weh. Erst wenn man verliert, weiß man, was man besessen hat. Man wird still. Man stützt den Kopf auf die rechte Hand, starrt minutenlang ohne sich zu bewegen auf die braunen Ziegel des gegenüberliegenden Daches, die im Regen ein wenig glänzen, so wie die eigenen Augen. Sie ist der Grund, warum ich lebe. Bevor ich sie kennenlernte, habe ich nur existiert. sagte Johnny Depp einmal. Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nicht so schrecklich gefühlt. Gegen diese Gefühle kann man mit Rationalität nicht ankämpfen, so sehr man es auch versucht, es ist unmöglich. Ich möchte sie umarmen, meine Hand auf der ihren spüren, ihr sagen, wie unendlich viel sie mir bedeutet, jetzt sofort. 164 eMails hat sie mir bisher geschrieben. Allein das Starten des eMail-Programms tut mir in der Seele weh.
Ich träumte, sie säße auf meinem Bett und hätte wieder zu mir gefunden, wir küssten uns. Als ich aufsah, war sie *beep* und hatte sich in ein anderes Mädchen aus meinem Jahrgang verwandelt, mit dem ich nie etwas zu tun hatte. Mein Blut geriet in Wallung, ich begann sie zu befummeln und bin nach den ersten Berührungen aufgewacht.
Am darauffolgenden Tag, Freitag dem 05. Juli, haben wir nocheinmal weit über eine Stunde miteinander telefoniert, so gegen 11 Uhr vormittags. Sie hat mir multiple choice-Fragen aus einem Psychologiebuch gestellt, ich habe zu erklären versucht, daß ich bei der Umarmung bei ihr im Türrahmen doch auch von ihr noch etwas Emotionales habe ausgehen spüren. Ihre Freundin hat ihr empfohlen, mich sitzen zu lassen. Eva sagt, sie habe sich den Umarmungen und Küssen am Montag nur hingegeben und mir die Übernachtung überhaupt nur erlaubt, damit sie ihren Sinneswandel nicht verbal und direkt vorbringen müsse. Die eMail sei ihr sehr ernst gewesen, sie denke weniger über die Beziehung nach als vielmehr über die Angst vor ihrer eigenen Konsequenz, sie wisse ja, daß ich kein Roboter sei. Daß sie mir ihre Gedanken an den anderen nicht sofort erzählt hat, läge daran, daß sie mich nicht habe verletzen wollen. Bis sie morgen wegen der CDs vorbeikommt, werden wir nicht mehr miteinander telefonieren. Meine einzige, verzweifelte Hoffnung besteht darin, daß sie mich in den Zeit, in der sie mich nicht sehen wird, vielleicht doch vermisst. Sie hat nicht direkt gesagt, daß sie nichts mehr für mich empfindet, aber davon ist auszugehen.
Vor dem Telefonat war ich auf der Post und Einkaufen. Ich bin zu Fuss gegangen und habe Strokes gehört, obwohl Fahrrad fahren praktischer gewesen wäre. Ich konnte nicht aufrecht gehen, schlich so gebückt und mit gesenktem Blick dahin. Es ging mir sehr schlecht. Jetzt, nach dem Telefonat habe ich mir aus dem Netz die zu meiner Situation passendsten Liebesgedichte von Heine herausgesucht und Rio Reiser - Junimond heruntergeladen. Ich habe eine Tiefkühlpizza gegessen. Ich habe Eis gekauft, genau das Eis, das sie bei mir immer gegessen hat, ich könnte mich selbst dafür ohrfeigen. Trotz allem fühle ich mich irgendwie erleichtert, der schlimmste Schmerz ist abgeklungen, eine tiefe, emotionslose Leere macht sich breit. Es scheint die Sonne, zum ersten Mal seit Tagen sehe ich wieder Licht am Ende des Tunnels. Rio Reiser bereitet mir eine Gänsehaut.
Ich habe ihr letzte Woche noch eine CD mit den Cardigans gebrannt. Die CD hatten wir in den zärtlichen Momenten gehört. Ich versprach ihr, ein schönes CD-Case zu basteln und dieses bei einem der nächsten Besuche nachzureichen. Ich denke, es wäre unangebracht, sich noch darum zu kümmern. Meine Argumentation, unser Glück nicht einer momentanen Stimmung zu opfern, sprach sie nicht an. Vielleicht habe ich mir diese Argumentation auch nur eingeredet. Ich meine, ich habe daran geglaubt, aber sie vielleicht nicht.
Ich habe eine wissenschaftliche Seite über Liebeskummer besucht, darin stand, daß der schlimmste Liebeskummer entweder beim Verlassenwerden oder bei der ersten grossen Liebe auftritt. Oh, wie perfekt. Es hielt mich am Nachmittag nicht mehr in der Wohnung, ich musste einfach raus. Ich ging in den Park, setzte mich auf eine Bank und stellte fest, daß ich das Buch The Bell Jar vergessen hatte. In der Ferne sah ich das Kino aufblitzen, es ging mir wieder durch den Kopf, wie sie dort die breite Treppe hinaufstieg. Stumpfsinnig saß ich auf der Parkbank und starrte Löcher in die Bäume. Strokes und Nirvana ließen mich herrlich in meiner Pein versinken. Eher unbewusst scannte ich alle weiblichen Personen ab, die an mir vorbeigingen, einige sahen gut aus und wären sozusagen in Frage gekommen; heute könnte mich Claudia Schiffer anflirten und es wäre mir egal. Während ich auf dieser Parkbank saß hatte ich noch eine schwer einzuordnende Empfindung. Durch all den Schmerz hindurch hatte ich eine Eingebung, ich wußte, daß ich wahrscheinlich nie wieder so intensiv fühlen würde wie heute, bei meinem ersten handfesten Liebeskummer, und ich jeden noch so brennend-stechenden Moment auskosten müsste, nicht aus masochistischen Motiven, sondern um zu reifen und diesen Momenten eine Art Sinn zu geben. Eine Frau mit einer Kaufland-Einkaufstüte ging vorbei. Ich bin mir nichteinmal sicher, ob es eine Frau war. Ich starrte nur auf die Tüte. Gegen 17:40 Uhr war ich zuhause und las The Bell Jar am Küchentisch. Esther bekam ihre ersten Elektroschocks und schnitt sich selbst mit Rasierklingen in den Oberschenkel. Zu Beginn meiner Lektüre war ich in den Glauben verfallen, das Schlimmste hinter mir zu haben, doch im weiteren Verlauf des Lesens schüttelte es mich wieder richtig durch. Ich legte das Buch weg, trank einen Schluck Wasser, aß drei oder vier Kekse (mehr aus Pflichtgefühl meinem Körper gegenüber denn aus Appetit), setzte mich an den PC. Ich phantasiere, wie ich Elisabeth anrufen, mich für ihr Kompliment bedanken und sie zu irgendwas einladen könnte. Ich würde sie fragen, was sie so macht, wofür sie sich so interessiert und dementsprechend eine Veranstaltung heraussuchen. In meiner Phantasie sagte sie zu. Und doch würde es mir im Moment nichts bedeuten, das weiß ich ganz genau. Ich besuche eine Kontaktanzeigenseite, beantworte einen Haufen Fragen zu meiner Persönlichkeit, schicke Kurznachrichten an knapp fünfzehn gleichaltrige Damen aus Berlin. Mein Auswahkriterium war der Literaturgeschmack. Eine hatte als Lieblingsautor irgendetwas von Albert Camus angegeben, es kam mir somit nicht ungelegen, Der Fall vor kurzem gelesen zu haben. Ich glaube nicht, daß bei dieser Kontaktanzeigengeschichte etwas herauskommt. Ich verhalte mich haargenau der Psychologieseite entsprechend. Deren Schemata zufolge stürzen sich viele Liebeskranke auf dem Höhepunkt der Verzweiflung in Abenteuer. Mein Verstand sagt mir, ich solle mein Oberstübchen auslüften, ausgehen, neue Leute kennenlernen, mich meinetwegen sinnlos betrinken. Dies ist mir nicht vergönnt, ich habe noch immer leichte Halsschmerzen und eine leichte Bronchitis, die ausheilen muss, wenn ich am Dienstag wieder zum Zivildienst will. Die Straßenbahn, die mich zur S-Bahn bringt, wird exakt dieselbe sein, mit der ich immer zu ihr gefahren bin. Eine teuflische Strafe, jeden Werktag aufs Neue an die zurückliegenden, glücklichen Monate erinnert zu werden. Ich müsste nur drei Stationen weiterfahren und schon wäre ich bei ihr. Jeden Morgen. Morgen werde ich sie vielleicht zum letzten Mal sehen. Ob sie, wenn sie wieder zurück kommt, noch mit mir wird telefonieren wollen ? Wird sie morgen einen beinharten Schlusstrich ziehen oder mir noch ein wenig Hoffnung lassen, daß sich ihre Gefühle vielleicht nocheinmal ändern werden, ändern können ? Ich werde Harald Schmidt ab heute wieder aufnehmen, zur Ablenkung. Die gesamte Woche über habe ich es schlicht und ergreifend vergessen. Wenigstens verbringe ich inzwischen nicht mehr den Grossteil des Tages im Bett. Ich schlafe sehr schlecht, wache laufend auf und komme nicht wirklich zur Ruhe. Es ist 19 Uhr. Ich werde den Rest des Tages fernsehen, eine Kleinigkeit essen, mir die Zähne putzen, lesen und schlafen. Ich existiere nur noch. Es ist 19:50 Uhr. Ich habe das Buch und die CDs, die ich ihr noch schulde, herausgesucht. Ein altes, von mir gestaltetes CD-Case für eine andere CD werde ich ihr noch geben. Es war ursprünglich für eine ganz andere CD gemacht, ich hatte ihr schließlich noch ein weiteres gebastelt. Es tut sehr weh.
Ich habe Harald Schmidt nicht aufgenommen. Mir ist nicht nach Lachen zumute, irgendwie. Beim Abwasch stach mir die Teetasse ins Auge, aus der sie immer getrunken hat, wenn sie bei mir war. Es geht mir etwas besser als gestern, aber schmerzen tut es immer noch. Wie habe ich irgendwo im Internet gelesen ? Die berühmte 2-Monats-Schallgrenze, wenn man über die drüber ist, kann es was längerfristiges werden...
Und das mir... der über Liebeskummer immer nur den Kopf geschüttelt und den Ärzte-Song Teenagerliebe nie so ganz nachvollziehen konnte.
06.07.2002 10:00 •
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