üge (aufklärerisch) Die Lüge ist eine sehr hohe Tugend, wenn sie Gutes tut. Man muß wie der Teufel lügen, nicht zaghaft, nicht zu Zeiten, sondern mutig und immer. - Voltaire, nach (som)
Lüge (protestantisch) Was wäre es, schon um Besseres und der christlichen Kirche willen eine gute, starke Lüge tun. - D. Martin Luther, nach (som)
Lüge (fürstlich) Wie rühmlich es für einen Fürsten ist, die Treue zu halten und redlich, ohne Falsch, zu leben, sieht jeder ein. Nichtsdestoweniger lehrt die Erfahrung, daß gerade in unsern Tagen die Fürsten Großes ausgerichtet haben, die es mit der Treue nicht genau nahmen und es verstanden, durch List die Menschen zu umgarnen.» Ein kluger Fürst könne und dürfte demnach sein Wort nicht halten, «wenn er dadurch sich selbst schaden würde». Nur wenn alle Menschen gut wären, «wäre diese Vorschrift nicht gut; da sie aber schlecht sind und dir die Treue nicht halten würden, brauchst du sie ihnen auch nicht zu halten. [...] Die Menschen sind so einfältig und gehorchen so leicht dem Zwang des Augenblicks, daß ein Betrüger stets einen finden wird, der sich betrügen läßt. So muß der Fürst Milde, Treue, Menschlichkeit, Redlichkeit und Frömmigkeit zur Schau tragen und besitzen, aber wenn es notig ist, imstande sein, sie in ihr Gegenteil zu verkehren.» Ein Fürst sei oft genötigt, «um seine Herrschaft zu behaupten, gegen Treue, Barmherzigkeit, Menschlichkeit und Religion zu verstoßen. Deshalb muß er verstehen, sich zu drehen und wenden nach dem Winde und.den Wechselfällen des Glückes, und am Guten festhalten, soweit es möglich ist, aber im Notfall vor dem Schlechten nicht zurückzuschrecken». - (Macchiavelli - nach (som)
Lüge (katholisch) Es waren vor allem die Jesuiten, die in der ihnen häufig nachgesagten intellektuellen Spitzfindigkeit jene heute allgemein verbreitete Lehre entwickelten, wonach zwar die Lüge an sich unbedingt verwerflich ist, jedoch »nicht selten Gründe triftigster Art, sogar schwerwiegende sittliche Forderungen eine Verheimlichung der Wahrheit notwendig machen, die nicht nur durch bloßes Stillschweigen zu erreichen ist». Möglich wird dies durch den Gebrauch einer Aequivokation (einer vieldeutigen Antwort), wie etwa der Amphibolie (einer Rede mit mehrfacher Bedeutung). Sogar die Restriktion (die einschränkende Deutung einer Wendung) ist erlaubt, die zwar nicht den Buchstaben der Frage, wohl aber ihren eigentlichen Sinn trifft. Wer beispielsweise gefragt wird, ob er aus einer verseuchten Stadt komme, jedoch weiß, daß er nicht infiziert ist, darf die Frage verneinen. Denn was der Fragende wissen will, ist ja nur, ob er die Seuche mitbringt — ein Ratschlag, den Kardinal Toletus (gest. 1596) aus der Gesellschaft Jesu erteilte. - (som)
Lüge (staatlich) In Notwehr darf ich töten, im Kriege wird es gesetzlich verlangt, und in vielen Ländern droht das Gesetz bei Verbrechen mit Todesstrafe. Die Tötung ist verboten, gestattet oder geboten, je nach gesellschaftlichem Zweck. - (som)
Lüge (japanisch) Yamamoto Zen-Jin‘uemon pflegte seine Männer auf einfache Art zu ermutigen: »Geht spielen und erzählt einen Haufen Lügen. Solange jemand nicht sieben Lügen erzählen kann, während er einen cho (circa hundertzehn Meter) läuft, kann man von ihm nicht erwarten, irgend etwas als wahrer Mann zu erreichen.« - (bush)
Lüge (philosophisch) Es ist merkwürdig, daß die Bibel das erste Verbrechen, wodurch das Böse in die Welt gekommen ist, nicht vom Brudermorde (Kains), sondern von der ersten Lüge datiert (weil gegen jenen sich doch die Natur empört), und als den Urheber alles Bösen den Lügner von Anfang und den Vater der Lügen nennt; wiewohl die Vernunft von diesem Hange der Menschen zur Gleisnerei (esprit fourbe), der doch vorher gegangen sein muß, keinen Grund weiter angeben kann; weil ein Akt der Freiheit nicht (gleich einer physischen Wirkung) nach dem Naturgesetz des Zusammenhanges der Wirkung und ihrer Ursache, welche insgesamt Erscheinungen sind, deduziert und erklärt werden kann. - Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797)
Lüge (zamonisch) Jeder kann sich hinstellen und eine platte Lüge von sich geben, das ist keine Kunst. Das Geheimnis besteht darin, den Zuhörer an sie glauben zu lassen, Und wie jede wirklich große Kunst besteht auch die des Lügens aus Fleiß und zahlreichen Schichten. Der Maler streicht Schichten von farbigen Pigmenten und Lasuren übereinander, der Musiker komponiert Lagen aus Melodien, Rhythmen, Stimmen und Instrumenten, der Schriftsteller fügt Wortschicht für Wortschicht übereinander, und der Lügner stapelt Lügen zum Meisterwerk. Ein guter Schwindel muß sein wie eine solide Backsteinmauer, geduldig Lage auf Lage gefügt und darum als Ganzes unerschütterlich.
Dazu muß man behutsam Lüge und Wahrheit mischen, Erwartungen schüren und dann wieder enttäuschen, falsche Fährten legen, erzählerische Haken schlagen, Schleichwege gehen und vor allen Dingen: Das Gesicht muß mitlügen. Jede noch so kompliziert gebaute Flunkerei kann durch den falschen Gesichtsausdruck zusammenstürzen. Ein falsch plaziertes Zucken der Augenbraue, ein unsicheres Zittern des Augapfels — und das kunstvoll gewirkte Lügengespinst ist zerrissen. Ich habe große Lügengladiatoren scheitern sehen, weil sie im falschen Augenblick geblinzelt haben. - (zam)
Lüge (politisch)
Lüge (literarisch)
Lüge Am 16. Januar 1942 fing ein Bataillon im Mittelabschnitt einen Überläufer. Der zuständige Ic-Offizier der Division, Wilhelm v. Kreutzer, ließ den jungen Sowjet ausquetschen. Er gab ihm persönlich zu essen und teilte ihm Rauchwaren zu. Der Überläufer hatte mehrere Optionen: 1. gar nichts sagen, 1. sagen, was er wußte; aber er wußte nichts Dringliches, 3. reden, reden, reden, und zwar in Richtung dessen, was diese Gegner für interessant hielten. Er versuchte festzustellen, was in dieser Situation einer parteilichen Haltung am besten entsprach. Parteilich war er in zweierlei Hinsicht: 1. sich selbst erhalten, 2. die Faschisten schädigen. Er erzählte deshalb flüssig von Angriffsvorbereitungen; die Ruhe der vergangenen Tage und Nächte täusche.
Daraufhin wurde die Truppe in Alarmbereitschaft versetzt. Das bedeutete 3 Stunden Posten stehen, 1 Stunde Ruhe für jedermann. Es führte bei 48° Kälte zu zahlreichen Erfrierungen. Ein Angriff des sowjetischen Gegners erfolgte nicht. Nach 48 Stunden wurde die Gefechtsbereitschaft aufgehoben. In diesem Moment griffen sowjetische Bataillone die Front an und brachen an mehreren Stellen durch. Eine Rache wegen der Fehlinformationen, die sich als zielsicher und parteiwirksam erwiesen, obwohl er das selber nicht sicher hatte wissen können, traf den Überläufer nicht. Er wurde routinemäßig weitergeleitet zur Armee. Dort geriet er in die Verfügungsgewalt einer Sondereinheit, die Schanzarbeiter suchte. Nach wenigen Tagen für das deutsche Interesse hoffnungsloser Schanzarbeit in der Kälte, die Verpflegung der improvisierten Einheit funktionierte nicht, es war in hohem Maße parteilich, hohe Zahlen an Arbeitenden unnütz zu binden, mit möglichst geringer praktischer Spatenarbeit, versuchte sich der Überläufer dieser Skla. ganz zu entziehen. Er wurde von einer Wache angeschossen und starb an Erfrierungen auf dem Transport zu einem entfernten Verbandsplatz. Dieser Transport wurde von 2 Gefreiten durchgeführt, die noch einen Umweg machen wollten, um an Haltepunkt 186 eine Verpflegungsdose abzuholen, die schon bezahlt war. Noch als Toter absorbierte der Überläufer deutsche Kampfkraft, da es sich als schwierig erwies, in den gefrorenen Boden eine Mulde zu sprengen, in der man ihn mit ungelöschtem Kalk bestreuen und notdürftig begraben konnte. Die Lüge vor dem Feindnachrichten-Offizier, Herrn v. Kreutzer, hatte auf dieses Ende weder positiv noch negativ Einfluß. Genutzt hätte dem Überläufer nur eine Lüge, die diejenige Truppe, die noch das ursprüngliche Gefühl der Brauchbarkeit kannte, das sie jedem Überläufer zunächst entgegenbringt, dazu verleitet hätte, ihn in der Nähe der geheizten Unterstände zu behalten. Eine solche Lüge gibt es aber nicht. Niemand kann sie erfinden. - (klu)
Lüge (psychologisch) Das Lügen ist ein eigener Kitzel der Eigenliebe, die da glaubt, daß Wahrheit den Verstand weniger ehre als Lügen eigener Erfindung. Im Lügen liegt ein geheimer Reiz, und nichts kann über diese Erscheinung menschlicher Selbsttäuschung besseren Aufschluß geben als die Tagebücher der sogenannten Selbstbeobachter (Lavater) oder Selbstbiographien: man braucht sich zwar nicht vor anderen zu schämen, aber man schämt sich vor sich selbst und wird zum Heuchler und Lügner vor seinen eigenen Buchstaben. Eitelkeit diktiert zudem die meisten Selbstbiographien, wenn auch gleich nur in der dritten Person von sich gesprochen wird. Madame de Staël antwortete, als die Rede von ihren Memoiren war: Wie werden Sie aber von Ihren Galanterien sprechen? - Oh, da zeige ich mich nur im Brustbilde! - (kjw)
Lüge (lebensrettend) Isaak Sangari brach zur Chasarenhauptstadt mit dem Schiff auf. Dieses Schiff aber überfielen die Sarazenen, und sie begannen, auf ihm alles Lebendige zu töten. Die Juden sprangen ins Wasser, um sich zu retten, aber die Seeräuber erschlugen sie mit ihren Rudern. Nur Isaak Sangari blieb ruhig an Deck. Das verwunderte die Sarazenen, und sie fragten ihn, warum er nicht wie die anderen in die Wellen springe.
»Ich kann nicht schwimmen«, log Sangari, und das rettete ihm das Leben. Anstatt ihn zu erschlagen, stießen ihn die Piraten ins Meer und fuhren mit ihren Schiffen davon. - (pav)
Lüge (biologisch) Es könnte einige Tatsachen geben, die bei höherer Menschlichkeit gebessert würden, wenn die ungeheuerliche Verlogenheit der Menschheit ein Ende nähme. In welcher Hinsicht mehrfach Altes und Neues Testament an die Aufhebung der Lüge appellieren, können wir heute wohl kaum mehr beurteilen, aber das Problem ist in einigen Jahrtausenden nicht einen Schritt vorwärts, sondern dreimal rückwärts gegangen.
Man braucht nicht davon zu sprechen, daß die Regierenden der Völker die Lüge mit Bewußtsein und listiger Wonne verwenden, daß sie es für eine herrliche Aufgabe halten, die Völker zu betrügen. Das ist nur der Ausdruck dafür, daß alle so viel zu verbergen haben und keine Zukunft sehen. Handelte es sich in der Lüge um ein moralisches Problem, so würde man ihr einfach jemand gegenüberstellen, der zur Wahrheit fähig ist, aber die Lüge ist ein biologischer Defekt ganz andrer Ordnung, als daß man ihr mit Moral beikommen kann.
Über sie zu sprechen, versuchte Strindberg mehrfach, kam aber ebenfalls bei seiner Beschränkung auf den einzelnen niemals an den Kern der Frage. - Ernst Fuhrmann, Was die Erde will. Eine Biosophie. München 1986 (zuerst 1930)
14.03.2006 23:47 •
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