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Leseprobe
Evolutionspsychologie
Die Wurzeln des Fairplay
Egal ob sportlicher Wettkampf oder Kassenschlange – unser Sinn für faires Verhalten ist ein Ergebnis der menschlichen Evolution. Kleines Manko: Oft zwingt er uns zu irrationalen Handlungen.
von Klaus Manhart
Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren! Minutenlang schon warten Sie mit Ihren Einkäufen in der Schlange vor der Supermarktkasse und die junge Frau mit dem feschen Pelzjäckchen drängt sich einfach an die Pole-Position. Und das Beste: Sie reagiert nicht einmal, als ein anderer frustrierter Kunde sie darauf anspricht.
Eine typische Alltagssituation, in der die meisten von uns äußerst ungehalten reagieren. So wie eine Mutter, die das Gefühl hat, die ganze Familienverantwortung alleine tragen zu müssen. Oder Kinder, die neidisch werden, weil sie glauben, weniger Aufmerksamkeit zu bekommen als ihre Geschwister. Und Arbeitskollegen, die sich beharrlich vor ungeliebten Teamaufgaben drücken, machen sich sowieso unbeliebt. Denn der Mensch hat im Laufe seiner Evolution äußerst feine Antennen für Übervorteilung und Ungerechtigkeit entwickelt.
Wider dem ökonomischen Kalkül
Fairness wird im menschlichen Miteinander groß geschrieben – und das nicht nur im Alltag: Sie hat auch einen großen Einfluss auf wirtschaftliche Entscheidungen. Denn die von der ökonomischen Standardtheorie vorgeschlagenen finanziellen Anreize zur Verhaltenssteuerung scheitern in der Praxis oft an der menschlichen Natur. So wäre es für einen Skiliftbesitzer wirtschaftlich sinnvoll, die Preise nach Angebot und Nachfrage zu regeln: Der große Andrang an Wochenenden und Feiertagen könnte durch höhere Preise im Vergleich zu Werktagen kompensiert werden. Die teuren Tage – so das ökonomische Kalkül – würden viele Besucher abschrecken und sie auf die billigeren Tage »umlenken«.
Das klingt logisch, zumal der Überhang am Wochenende für den teuren Ausbau der Liftanlagen verantwortlich ist. Dennoch versteifen sich die meisten Menschen darauf, dass die Betriebskosten an jedem Tag des Jahres dieselben sind. Bei so manchem Skifahrer wird dadurch der Glaube geweckt, es sei unfair, an Feiertagen und Wochenenden einen höheren Preis zu verlangen. Das wiederum kann dem Betreiber der Anlage nicht egal sein: Er muss berücksichtigen, dass er mit deutlich erhöhten Wochenendpreisen seine Besucher vergraulen würde. Der Liftbesitzer wird also letztlich durch Fairnessüberlegungen davon abgehalten, die betriebswirtschaftlich sinnvolle Tarifstaffelung einzuführen. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit nachfragebezogenen Preissteigerungen bei Spitzenspielen der Fußballbundesliga oder dem Haarschnitt am Samstagvormittag.
(c) OSWALD HUBER
Worauf solche Fairnessmotive beruhen, zeigt sich besonders deutlich im so genannten Ultimatum-Spiel, das der Ökonomieprofessor Werner Güth vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen in den 1970er Jahren erfunden hat. Stellen Sie sich vor, Sie erhalten 100 Euro, unter der Auflage, das Geld mit einem Spielpartner zu teilen. Dieser bestimmt, wie viel er von den 100 Euro abgeben möchte. Sie selbst haben ein Vetorecht und können sein Angebot ausschlagen oder akzeptieren. Schlagen Sie ein, bekommen Sie und Ihr Partner den genannten Betrag, lehnen Sie ab, gehen beide leer aus. Bietet der Spielpartner Ihnen also 10 Euro und Sie nehmen an, bekämen Sie die 10 Euro und der andere steckt 90 Euro in die Tasche. Welches Angebot werden Sie akzeptieren? 50 Euro? 5 Euro? Noch weniger?
Ginge es rein nach rationalen Überlegungen, müssten Sie jedem Gebot zustimmen. Schließlich ist es besser, wenigstens einen kleinen Teil des Geldes zu erhalten, als völlig leer auszugehen. Umgekehrt wäre damit aber auch für den bietenden Partner die Strategie klar: Rational betrachtet ist es aus seiner Sicht das Beste, Ihnen den niedrigst möglichen Betrag zu offerieren, einen Euro etwa, und die verbleibenden 99 selbst einzustreichen.
Verzicht im Dienste der Gerechtigkeit
In der Realität sehen die Dinge jedoch ganz anders aus. Nur die wenigsten Probanden handelten in diesem und vergleichbaren Experimenten nach dem Rationalitätskalkül – und zwar auf beiden Seiten. Betrachten wir zunächst die Bietenden: Nur elf Prozent der Personen verlangten im Originalversuch mehr als 90 Euro für sich (Währung und Beträge waren damals anders, die Relationen stimmen jedoch). Im Durchschnitt wurden 67 Euro vorgeschlagen; ein Viertel der Teilnehmer bot sogar Gleichverteilung an. Andersherum wurden dürftige Offerten nur selten toleriert. Mindestens 30 bis 40 Euro musste der Bieter springen lassen, damit sein Gegenüber den Deal annahm. Mehr als die Hälfte lehnte alle Vorschläge unterhalb der 20-Prozent-Marke ab.
Doch damit nicht genug: In einem ähnlichen Experiment stellte sich heraus, dass Menschen sogar bereit sind, einen finanziellen Verlust auf sich zu nehmen, um Unfaire zu bestrafen. Diesmal sollte sich ein dritter Proband entscheiden, ob er lieber 10 Dollar mit einem fairen Spieler der ersten Runde oder 12 Dollar mit einem vormals ungerechten Partner teilen wollte. Da eine Halbierung des Betrags vorgegeben war, hätte er durch den Handel mit Letzterem auf jeden Fall mehr verdient. Trotzdem entschieden sich die meisten Telnehmer dafür, weniger Geld einzustreichen, weil sie es lieber mit einem fairen Gegenüber zu tun hatten.
Die Konsequenz liegt auf der Hand: Unser Verhalten ist nicht nur von persönlicher Nutzenmaximierung beeinflusst, sondern auch von Fairnessgedanken. In der Regel hat jeder Mensch eine Vorstellung davon, wann ein Handel gerecht oder ungerecht ist. Ist die Quote verletzt, sehen sich viele genötigt, Rache zu nehmen, und sind sogar bereit, im Dienste der Gerechtigkeit Opfer zu bringen.
Fairnesswächter Gehirn
Warum sich der Mensch so vehement gegen unfaire Behandlung wehrt, hat einen einfachen Grund: Unser Gehirn ist so angelegt, dass es kooperative Beziehungen strengstens kontrolliert, damit wir uns auf lange Sicht nicht ausnutzen lassen – selbst wenn wir dafür kurzfristig Nachteile in Kauf nehmen müssen. Dieser Automatismus lässt sich weder an- noch abschalten. Er ist Teil unserer Natur.
Denn Hand aufs Herz: Auch Sie führen eine mentale Liste, auf der detailliert verzeichnet ist, wer Ihnen wann einen Gefallen getan hat – oder schuldig geblieben ist. Ebenso gut merken wir uns, wem wir unsererseits einen Freundschaftsdienst erwiesen haben. Bestimmt kennen Sie solche Gedankengänge: »Er lädt mich nur zu seiner Feier ein, damit ich seinen Sohn in die Tennismannschaft nehme.« Oder: »Die beiden waren schon zweimal zum Essen hier und haben uns noch nie zu sich eingeladen.« Freundliches und kooperatives Verhalten wird erwidert und belohnt; auf das Gegenteil reagieren wir mit Strafe oder Abbruch der Beziehung. Dieses Prinzip der Reziprozität, wie es im Fachjargon heißt, ist der Kitt unseres Soziallebens
(c) OSWALD HUBER
Bei einmaligen Begegnungen wie im Supermarkt oder beim Ultimatum-Spiel nützt die Reziprozität allerdings nichts. Also setzen wir andere Mittel ein. Der Evolutionsbiologe Robert Trivers von der Rutgers University in New Jersey glaubt, dass moralische Empörung dazu dient, im sozialen Austausch die Fairness zu kontrollieren. Diese kann sich etwa in Wut oder Aggression äußern. Ist der Kommunikationskanal wie im Ultimatum-Spiel auf die Annahme oder Zurückweisung eines Gebots beschnitten, zeigen wir unsere Entrüstung, indem wir zum eigenen Nachteil ablehnen..
Die starke emotionale Reaktion, ja, der Zwang, dem man sich in der Antwort auf unfaires Verhalten ausgesetzt fühlt, ist ein deutlicher Hinweis auf dessen evolutionsbiologische Wurzeln. Versetzen wir uns in die Zeit unserer Urahnen zurück. Stellen Sie sich vor, dass es sich bei dem zu verteilenden Kuchen des Ultimatum-Spiels nicht um Geld, sondern um ein Mammut handelt: Ein einzelner Mensch hat keine Chance, es zu erlegen. Erst die gemeinsame Jagd ermöglicht das Erbeuten der riesigen, nahrhaften Tiere. Und da die Evolution Verhaltensweisen förderte, die dem frühen Homo sapiens die besten Überlebenschancen gaben, konnte sich der kooperative Jäger gegen den Einzelgänger behaupten.
Aus für Trittbrettfahrer
Die Sache hat nur einen Haken: Warum sollte sich der Einzelne am gefährlichen Kollektivjob beteiligen? Ist die Beute einmal erlegt, steht das leicht verderbliche Fleisch allen zur Verfügung – selbst dem faulsten Jäger der Sippe. Der Furchtlose hingegen bekommt zwar ebenfalls seinen Teil, aber zu weit höheren Kosten als der Trittbrettfahrer: Er investiert viel Zeit in die Jagd – und setzt sich vor allem größter Gefahr aus. Damit würde ein erfolgreicher Jäger, der sich pausenlos vor den Karren spannen lässt, am Ende des evolutionären Wettrennens gegen den Nutznießer verlieren. Egoistische schwarze Schafe würden sich so gegen selbstlose Konkurrenten durchsetzen.
Das Beispiel zeigt: Soziale Kooperation war schon zu Urzeiten ein filigranes Gebilde. Selbst wenige Schwindler ließen die Zusammenarbeit in der Gruppe schnell und flächendeckend zusammenbrechen. Damit sich kooperatives Verhalten evolutionär durchsetzen konnte, war ein frühzeitiges Erkennen sozialer Abweichler notwendig. Ließen sich Betrüger leicht identifizieren, konnten sie von der Interaktion ausgeschlossen werden.
Wahr oder falsch?
Bereits Trivers hatte vermutet, dass Menschen im Laufe der Geschichte einen regelrechten Algorithmus zum Entdecken von Betrügern entwickelt haben. Das Evolutionspsychologen-Ehepaar Leda Cosmides und John Tooby von der University of California in Santa Barbara scheint diesem Mechanismus nun auf die Spur gekommen zu sein. Ausgangspunkt ihrer Forschungsarbeit war ein psychologisches Experiment, das mit dem eigentlichen Betrugsaufdeckungsproblem zunächst nichts zu tun hatte.
Der Psychologe Peter Wason, der zuletzt am University College London forschte, hatte bereits in den 1960er Jahren eine Kartenwahl-Aufgabe entwickelt. Mit diesem Test wollte er herausfinden, wie sich Menschen beim Widerlegen von Hypothesen bewähren. Er zeigte Versuchspersonen eine Menge von Karten mit Buchstaben auf der einen und Zahlen auf der anderen Seite. Anhand von vier Karten sollten sie eine vorher aufgestellte Regel prüfen, zum Beispiel: »Wenn auf der Vorderseite ein D steht, dann steht auf der Rückseite eine 3.« Logisch betrachtet, handelt es sich um eine einfache »P impliziert Q«-Aussage. Wason legte den Probanden vier Karten vor – eine zeigte ein D, die zweite ein F, die dritte eine 3 und die vierte eine 7 – und forderte sie auf, die Richtigkeit der Regel durch das Umdrehen zweier Karten zu überprüfen (Siehe Bild).
(c) THOMAS BRAUN / GEHIRNGEIST
Hypothesenprüfer
Peter Wason entwickelte 1966 den »Kartentest«: Durch Umdrehen zweier Karten soll der Proband folgende Regel überprüfen: »Wenn auf der Vorderseite ein D steht, dann befindet sich auf der Rückseite eine 3.« Die meisten Teilnehmer scheiterten an dieser Aufgabe. (Lösung: D und 7)
Ersetzt man nun aber die Zahlen und Buchstaben durch Ereignisse aus der wirklichen Welt, sieht das Ergebnis völlig anders aus. Diesmal sollten sich die Probanden vorstellen, sie seien Rausschmeißer in einer Bar und verantwortlich für die Einhaltung folgender Regel: »Wenn eine Person B. trinkt, dann muss sie 16 Jahre oder älter sein.« Sie konnten entweder überprüfen, was die Gäste trinken oder wie alt sie sind. Zur Auswahl standen ein Bier- und ein Colatrinker sowie eine 18- und eine 14-jährige Person. Das überraschende Ergebnis: Obwohl sich diese Aufgabe in ihrer Logik mit der ersten völlig deckt, entschieden sich diesmal die meisten richtig. Sie gaben an, den Biertrinker und den 14-jährigen Gast überprüfen zu wollen.
(c) THOMAS BRAUN / GEHIRNGEIST
Betrugsdetektor
Viel leichter als der Kartentest (Bild oben) gelingt der Betrugsaufdeckungstest von Richard Griggs und James Cox (1982), obwohl er derselben Logik folgt. Diesmal lautet die Regel: »Wenn eine Person B. trinkt, dann muss sie mindestens 16 Jahre alt sein.« (Lösung: B. und 14 Jahre)
Warum aber ist die zweite Form des Tests so viel einfacher als die erste? Man könnte meinen, es liege daran, dass die erste Aufgabe abstrakt, die zweite hingegen konkret und irgendwie vertraut erscheint. Doch das ist nicht der Fall, denn eine dritte Aussage »Wenn eine Person Peperoni isst, dann trinkt sie auch kaltes B.« erwies sich im Test als ebenso schwer zu widerlegen wie die mit den Zahlen und Buchstaben. Was unterscheidet also die Alk. von der Peperoni- oder der Karten-Regel? Oder anders formuliert: Was macht die schwierigen Fälle schwierig und die einfachen einfach?
Geborene Rausschmeißer
Die Antwort der Evolutionspsychologen Cosmides und Tooby lautet: Eine Behauptung lässt sich dann leicht überprüfen, wenn sie als sozialer Vertrag formuliert ist. B. in einer Bar ist ein Nutzen, den man sich dadurch verdient, dass man das vorgeschriebene Alter von mindestens 16 Jahren hat und damit seine Berechtigung beweisen kann. Jüngere Trinker sind Betrüger. Die Lösung der Alk. gelingt so leicht, weil die Rausschmeißer einen Betrug seitens der Barbesucher aufdecken sollen.
Betrüger zu entlarven fällt uns demnach leichter, als logisch zu denken! Der menschliche Geist ist darauf spezialisiert, die Einhaltung sozialer Regeln zu überwachen, ohne die dahinter liegenden logischen Prinzipien zwingend zu durchschauen. Cosmides und Tooby schreiben diese Fähigkeit einem ganz bestimmten Gehirnteil zu, den sie als Betrügerdetektor-Modul bezeichnen. Wo genau diese Instanz lokalisiert ist oder wie sie arbeitet, wissen Neurowissenschaftler noch nicht. Vielleicht steckt sie im Gefühlssystem: Cosmides und Tooby berichteten von einem Patienten, dessen limbisches System – das Gefühlszentrum in unserem Denkorgan – durch eine Verletzung Schaden genommen hatte. Der Mann war nicht mehr in der Lage, Betrüger zu erkennen: So bemerkte er bei Tests nicht, wenn sich ein Partner bei einem Tauschgeschäft einen unlauteren Vorteil verschaffte. Davon abgesehen hatte der Patient jedoch normale soziale Fähigkeiten.
Heiratsschwindler und Kreditkartenbetrüger
Für eine solche Betrügerdetektor-funktion musste die Prozessorleistung unseres Gehirns im Laufe der Evolution vermutlich gehörig aufgestockt werden. Und vielleicht verdanken wir seine Komplexität einem mentalen Wettrüsten: Das Entdecken von Schwindlern wird durch die Fähigkeit des Vortäuschens sozialer Absichten erschwert – entsprechend musste das menschliche Denkorgan um immer bessere Mechanismen zur Offenlegung sozialer Abweichler erweitert werden.
Während ein fauler Mammutjäger noch leicht zu erkennen war, ist das Überführen von Kreditkartenbetrügern oder Heiratsschwindlern schon viel schwieriger. Evolutionsbiologen gehen davon aus, dass sich Großhirnrinde und Sprache parallel zur Gruppenstärke der Menschen entwickelten. Die Hauptaufgabe des Gehirns war dabei, einen Überblick über die immer vielschichtiger werdenden sozialen Interaktionen zu behalten – und sei es nur, um aufzumucken, wenn wir mal wieder in der Kassenschlange wartend nach hinten gedrängt werden.