Ich glaube, dass die Erkrankung von außen oft nicht in ihrer Komplexität erkannt wird, weil es eben auch schwer nachzuvollziehen ist und weil eben manche Erkrankte vieles noch machen können. Deswegen sind sie aber nicht zwangsläufig weniger krank.
In meiner schlimmsten Phase war es so, dass ich nichts mehr auf die Reihe brachte. Irgendwo anzurufen, z.B. um einen Arzttermin zu bekommen, brauchte 3 Wochen. Nicht weil ich nicht anrufen wollte, sondern weil ich es schlicht nicht konnte. Es war eine unüberwindbare Hürde. Ich konnte die paar Schritte nicht zum Telefon gehen und den Hörer greifen. Alles was ich noch konnte, war atmen. Das erforderte alles von mir. Natürlich gab es auch da Tage, an denen ich einkaufen gehen konnte (weil ich es musste), aber oft stand ich schon an der Wohnungstür um rauszugehen, überlegte es mir wieder anders, weil es nicht machbar schien, und setze mich wieder aufs Sofa. Ich verbrachte 7 Monate auf dem Sofa, bis ich in eine Klinik fahren konnte. Wenn ich zum Arzt ging und er mich weitere drei Wochen krank schrieb, wollte ich nur zurück auf mein Sofa und beschäftigte mich panisch mit der Frage, wie um Gottes Willen ich es in drei Wochen schaffen sollte, erneut zum Arzt zu gehen. Und obwohl ich natürlich den Teufelskreis, in dem ich steckte, erkannte, änderte das gar nichts, weil ich nichts ändern konnte.
Ich weinte nicht, ich zog mich komplett zurück, ich fühlte mich belästigt und überfordert von Einmischungen in mein Sofadasein. Genesungskarten von Kollegen wollte ich nicht, denn sie erforderten eine Reaktion. Alles was Menschen von mir wollten, überforderte mich. Egal, wie gut es gemeint war. Ich war zu Reaktionen nicht fähig. Nicht zu guten Tag, zu Danke und Bitte.
Aber eine Sache konnte ich: ich führte eine Affäre. Ich konnte mich etwa 1x die Woche treffen, in Restaurants gehen, Kurztrips machen usw. Warum das? Ich weiß es nicht. Ich war nicht verliebt, aber es war schön. Ich habe es mir später so erklärt, dass die Körperlichkeit der einzige Weg für mich war, das Leben und mich normal und funktionstüchtig zu fühlen. Doch in mir waren trotzdem diese trostlosen, energiefreien, dunklen, lähmenden Abgründe und hielten mich fest gefangen.
Was ich damit sagen will:
Jeder, der mich mit meiner Affäre gesehen hat, hätte (mal unabhängig davon, dass Affären Schaiße sind) sicherlich feststellen können, dass ich ja sooo krank nicht sein könnte, wenn ich flirtend in irgendwelchen Restaurants gesehen werde. Oder er hätte die Frage stellen können, wieso ich zwar in der Lage wäre, mich aufzubretzeln und irgendwohin zu fahren und in Bars herumzuhocken, nicht aber dazu, den Arzt anzurufen oder zur Arbeit zu gehen.
Wahrscheinlich würde ich jedenfalls so über andere denkenn, hätte ich nicht selber mal in der Falle gesessen. Bei mir war es damals das erste Mal, dass mich die Depression dermaßen überrannt hat. Bis dorthin war es ein langer Weg, auf dem ich längst Hilfe hätte in Anspruch nehmen müssen und viele Fehler gemacht habe im Umgang mit mir selbst. Aber ich habe es nicht getan, weil ich mich dem nicht stellen wollte sondern eben nicht konnte und nicht wusste, wie existenziell es ist, das zu tun. Bis es eben nicht mehr anders ging, weil Ich leer mit einer Festplatte im Kopf, die dringend eine Defragmentierung bedurfte, einen kompletten Systemzusammenbruch erlitt.
Wer an Depressionen erkrankt, ist gut beraten, einen Umgang damit zu erlernen. Ich finde es falsch zu sagen, der Mann, um den es hier in diesem Thread geht, könne zwar offenbar dieses oder jenes, wieso kann er denn dann nicht auch etwas anderes. Man weiß es nicht, denn das Ganze ist ziemlich komplex.
Aber er hat Erfahrungen mit dem Thema und vermag es offenbar dennoch nicht, erlernte Strategien anzuwenden (ist auch schwer, wenn es wieder los geht) oder zu erkennen, dass diese nichts taugen und er neue benötigt.
Was er stattdessen getan hat ist, Dir die Verantwortung hinzulegen mit den Worten, bei Dir fühle er sich sicher. Du hast sie aufgehoben zunächst, sie gedreht und gewendet und Dich gefragt, was Du denn jetzt wohl mit diesem kostbaren Stück anstellen kannst, damit es ihm besser geht und damit auch Eurer Beziehung. Während er sich mit all den Auswüchsen seines Gemütszustandes gehen lassen und in Sicherheit wiegen konnte, ohne selber in seine Gesundheit zu investieren. Du hättest ja schließlich seine Verantwortung behalten, statt sie ihm zurück zu geben.
Du bist also jetzt gut beraten dabei zu bleiben, seine Verantwortung in seinen Händen zu lassen. Manche Geschenke darf man an ihren ursprünglichen Besitzer (vor allem aber auch Eigentümer) zurück geben oder sie ablehnen. Deswegen ist man kein schlechter Mensch oder Partner. Vielleicht sogar eher ein besserer. Nur so wird er wohl irgendwann in Aktivität kommen. Nicht unbedingt für Eure Beziehung, aber für sich selbst.
Bleib stark.