Zitat von elizabeth2022: Ich vermute mit diesem Satz hast du recht. Kannst du erläutern, was du genau damit meinst?
Fast alle Menschen mit einer generalisierten Angststörung (und nein, das ist keine Diagnose - ich bin kein Fachmann, sondern meine vage Vermutung nach dem was du beschreibst) haben genau dieses überhöhte Anspruchsdenken an sich. Ich muss funktionieren und ich muss perfekt sein.
Es ist diese Ambivalenz zwischen Ich will durch Leistung wahrgenommen werden und Ich möchte nicht im Mittelpunkt stehen. Die meisten Angstpatienten (war am UKE in der Angstgruppe im Vorfeld, dazu eine Verhaltenstherapie die zeitgleich lief - alles vor meinem stationären Aufenthalt) haben ein massives Problem damit (dysfunktional) wahrgenommen zu werden. Zudem wollen sie nicht im Mittelpunkt stehen - das generiert Druck, Stress und daraus eben Angst.
Warum musst du perfekt sein und funktionieren?
Was WÄRE so schlimm daran, wenn andere Menschen dich nicht als perfekt funktionierend wahrnehmen?
Was würde passieren, wenn sie es tun, wenn der Fokus stark auf dich gerichtet wäre?
Für WEN willst du performen?
Warum gestehst du dir keine Schwächen zu und was sind für dich Schwächen?
Was bringt es dir genau, wenn du funktionierst und perfekt bist?
Stell dir diese Fragen mal in ein paar ruhigen Stunden (jeweils einzeln), mach dir Notizen dazu, was dir dabei als ERSTES durch den Kopf schiesst und was weiter daraus wird, wenn du länger darüber nachdenkst.
Schreib dir die Konsequenzen auf, was passieren würde, wenn du mal nicht so perfekt wärst.
Einerseits deine Phantasien - also deine Ängste, denn nichts anderes sind sie. Aber auch andererseits deine rationalen Gedanken, was WIRKLICH als Konsequenz eintreten würde. Also mach einen Realitätscheck. Mir hat das immer sehr geholfen - Fiktion vs. Realität. Was ist WAHRHAFTIG und was ist mein Gedankenanteil daran.
Zitat von elizabeth2022: habe mich in die Öffentlichkeit begeben wo alle auf mich geschaut haben.
NIEMAND hat dich angeschaut. Das ist Phantasie.
Dazu eine Erfahrung aus meinem damaligen Angsttraining, denn diese Angst hatte ich auch:
In der stationären Therapie gab es auch Sonderkurse. Einer davon war die Panik-/Angstgruppe. Wir sind mit ein paar Patienten und zwei Therapeuten in die Hamburger Innenstadt gefahren. Dort haben wir Trainings absolviert, direkt am Jungfernstieg - extrem belebte und offene Einkaufsstraße in Hamburg, direkt an der Alster. Also High-Live und für uns alle war alleine das schon purer Stress. Es wurden Zweierteams gebildet und dann ging es los.
Eine meiner Aufgaben: Einen lautstarken Konflikt zu führen mit meinem Buddy - und zwar von Straßenseite zu Straßenseite (gegenüber liegend). Als unsere Psychologen uns die Aufgabe gaben, haben mein Buddy und ich beiden denen erstmal einen Vogel gezeigt.
Immer an unsere Lage denken: Stresslevel hoch, Angst vor der Angst vorhanden und dann noch diese Location, die Erwartungshaltung der Psychologen, die uns die Aufgabe gegeben haben und eben die Location.
Wir haben uns geweigert. Dann haben die beiden Psychologinnen genau das gemacht. Komplett über die gesamte Straße einen Konflikt geführt (Eine wollte das Rathaus anschauen, die andere Shoppen - somit in unterschiedliche Richtungen gehen, aber offensichtlich für jede/n, dass sie zusammengehören). Und das haben sie nicht mal stationär gemacht. Sie sind lautstark die Straße abgelaufen und haben sich eben gestritten.
Wir sollten die Szene beobachten, anonym sozusagen und andere Menschen dabei beobachten, wie sie reagieren.
Kein Schwein hat das interessiert, wirklich niemanden. Dieser in der Öffentlichkeit im Mittelpunkt stehen-Gedanke/Phantasie wurde damit bei uns abgemildert. Mein Buddy und ich waren verblüfft.
Dann wurden wir gefragt, was wir bei den anderen Menschen beobachtet haben. Wir haben logischerweise erzählt, was wir sahen. Und dann sagte eine Psychologin: Ihr wisst, dass Angst-Bewältigung mit Konfrontation zu tun hat? Wenn ihr das hier nicht machen wollt, könnt ihr das frei entscheiden - aber ihr werdet diese Möglichkeit vermutlich schon auf der Fahrt zurück in die Klinik bereuen. Es ist eine Möglichkeit, kein Zwang.
Was haben wir getan? Dieses Monstrum an Angst in uns heruntergeschluckt und genau das gemacht, was die beiden Psychologinnen getan haben. Es hat kein Schwein interessiert, dass wir uns da so angebrüllt haben und danach... Wow, was für ein Gefühl! Dieser Triumph, diese abfallende Last es getan und sogar geschafft zu haben!
Seitdem bin ich immer wieder bewusst (auch heute noch) Situationen eingegangen, die mich konfrontiert haben. Ja, ab und zu bin ich doch noch geflüchtet. Diese Flucht wird ja immer so sehr verteufelt. Aber schau mal nicht auf die Situationen in denen du vermeidest/flüchtest. Schau auf die, in denen du aushälst und stärker bist. Denn auch hier ist wieder der Knackpunkt: Nicht die negativen Dinge zu sehr Gewichten und die positiven vergessen.
Die Welt ist selten in Extremen aufgebaut. Fast immer gibt es ein dazwischen und vor allem gibt es viel mehr UND als Entweder/oder. Du bist nicht schwach oder stark. Du bist beides gleichzeitig. Du bist nicht perfekt oder unperfekt. Du bist beides - und vor allem bist du Mensch. Menschen DÜRFEN Fehler machen, falsch liegen und auch mal Quark machen. Die Erde wird sich trotzdem weiter drehen, du wirst keinen Menschen damit verletzen oder Leid zufügen. Erlaube es dir!
Übrigens finde ich es toll, dass du nicht aufgibst und in die Konfrontation gehst. Saustark! Ich weiss wie brachial hart das ist, wenn die Angst vor der Angst einen einsperrt und mit der großen Schwester Angst geißelt. Gib bitte nicht auf und zeig ihr den Mittelfinger, immer wieder.
Und ein Gedanke vielleicht noch: Ich habe mich damals teils dafür gehasst, dass ich das in mir trage (inkl. mittelschwerer Depression die da noch mit hinzukam durch die Isolation). Heute sehe ich es anders. Die Angst hat mich beschützt davor mich selbst zu zerstören, sie hat mir die Chance gegeben mich zu entwickeln und Dinge anders zu sehen. Sie hat mich tatsächlich zu einem tieferen Menschen gemacht. Es war eine Lektion, die ich wohl lernen musste und heute bin ich dankbar, dass ich sie verstanden habe.