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Vorletzter Brief

alainwest
Ich weiß natürlich nicht, ob du das überhaupt jemals liest, aber ich musste es einfach niederschreiben, ich konnte meine letzte Korrespondenz mit dir nicht unkommentiert lassen. Das ist nicht die Erinnerung, die ich hinterlassen möchte.

Ich habe gerade meine Therapiehausaufgaben gemacht und die stürmische See der Idiotie hat sich beruhigt. Die Wogen sind etwas geglättet.

Ich habe nach meiner letzten Episode dir gegenüber nunmehr eine nachhaltige Erkenntnis beim Verfertigen meiner Aufgabe gehabt.

Ich wusste ja bereits, dass mein Thema immer die Kontrolle gewesen ist und das in vielfältigen Ausprägungen. Diese Kontrolle über meine Umgebung wurde von mir stets mit Aggression durchgesetzt, wodurch Wut zu meiner Sekundäremotion werden konnte, da sie sich als primäre Erfolgsstrategie durchgesetzt hatte, um Konfliktsituationen zu klären.
Jegliche negativ besetzten Gefühle wurden von mir also versucht mittels Wut aufzulösen, daher war ich auch immer ein beschissener Ansprechpartner, wenn es um Ängste und Sorgen ging, wie du bedauernswerterweise mehr als einmal erleben musstest.

Dieser Kontrollzwang wurde ausgelöst durch ein bedrohliches, unstetes Elternhaus (Vater willkürlicher Narzisst und Trinker und überforderte jähzornige Mutter), in dem meine Existenz fortwährend bedroht wurde. Ständig wurde mir erzählt, während man meine Sachen packte, dass ich nun ins Heim gegeben würde, dass es jetzt reichte und man mich abholen ließe. Ich wurde geschlagen und meine Bedürfnisse waren nie Gegenstand irgendeiner Betrachtung.
Alleine diese Zeilen zu schreiben macht mich unendlich traurig, eine Trauer, die meinem schutzlosen, unschuldigen jüngeren Ich gilt, meinem inneren Kind. Der kleine x. hatte es damals einfach schlecht und das musste ich mir erst einmal eingestehen und mir auch erlauben Mitgefühl mit ihm zu haben. Der erwachsene x. kann und darf wütend sein, aber er darf auch trauern um sein kleines Ich und das tut er jetzt auch.

Das war allerdings noch nicht ganz der springende Punkt, mein zugrundeliegendes Problem war nicht (nur) der Kontrollzwang, sondern wie dieser entstand. Nämlich durch die Angst vor Verlust, dem Verlust des Zuhauses, der Heimat, der Liebe. Alle Entscheidungen, die ich als Erwachsener getroffen habe wurden durch diese Angst beeinflusst, alle Ausflüchte und Erklärungen dienten nur dazu dem Verlust von etwas entgegenzuwirken. Ich wollte mein Kind nicht verlieren, mein Zuhause nicht verlieren und dich nicht verlieren. Diese Situation ließ sich nicht auflösen ohne mein Mitwirken und dagegen habe ich mich aus Angst konsequent gewehrt, ich habe stets nach dem Weg des geringsten Widerstands gesucht, dem Weg, der am wenigsten Einbußen für mich bedeutet und bin dadurch den Weg eines furchtsamen und mutlosen Kindes gegangen.

Ich war nie der Mann, den du vielleicht für kurze Zeit in mir gesehen hast, ich war feige, bedürftig und zwanghaft. Ich kann aus der Warte, die ich jetzt gerade eingenommen habe nicht glauben, was ich dir zuletzt schrieb und anbot, obwohl es erst ein paar Tage zurückliegt. Ein hanebüchener Vorschlag, geboren aus Angst. Ich schäme mich dafür unendlich, aber genau so muss ich vor deinem geistigen Auge dastehen, als schamerfüllter, blubbernder Idiot. Sieh mich bitte noch einmal im Geiste an, sieh meine Unentschlossenheit, sieh meine Drückebergerei und höre mich, wie ich dir sage, dass ich dich aus tiefstem Herzen um Verzeihung bitte für das, was ich getan und größtenteils eben NICHT getan habe.

Zu keiner Zeit lag es an dir, zu keiner Zeit warst du es nicht wert den letzten Schritt zu gehen, ich war zu feige. Falls du dich irgendwann mal an unsere gemeinsame Zeit erinnerst, so möchte ich, dass du dir sicher bist, dass nichts, was du getan hast, uns verhindert hat. Ich hingegen werde jetzt erst langsam dem Mann ähnlicher, der ich vor drei Jahren hätte sein müssen und vorgab zu sein. Ich werde mich immer an uns erinnern, denn wir waren lebensverändernd für mich.

Ich habe leider durch mein Verhalten nicht nur unsere Liebe getötet, sondern auch unsere Freundschaft und beides bereue ich zutiefst.

Du warst das Beste.

Ciao

x.


Das sollte eigentlich meine letzte Mail gewesen sein, aber es kam noch eine Antwort von ihr.

07.10.2020 16:20 • x 3 #1


B
Schick das bitte nicht ab. Dir das von deiner Seele zu schreiben war schon gut und richtig. Aber lesen sollte sie das nicht.

07.10.2020 16:31 • x 1 #2


A


Vorletzter Brief

x 3


alainwest
Zitat von Bumich:
Schick das bitte nicht ab. Dir das von deiner Seele zu schreiben war schon gut und richtig. Aber lesen sollte sie das nicht.


Ich schrieb doch, dass sie bereits geantwortet hat.

07.10.2020 16:32 • #3


L
Der Brief ist schon ziemlich dick aufgetragen, für mein Empfinden zu dick.
Was hat sie denn geantwortet?

07.10.2020 16:43 • #4


alainwest
Zitat von LoveForFuture:
Der Brief ist schon ziemlich dick aufgetragen, für mein Empfinden zu dick.
Was hat sie denn geantwortet?


Das ist nicht dick aufgetragen, sondern eine Beschreibung meiner Situation.

Sie hat geantwortet:

Lieber x.,

Entschuldige bitte meine späte Antwort. Ich hatte ordentlich um die Ohren mit den Klausuren und musste unseren letzten Mail Verlaufe erstmal in Ruhe verarbeiten.

Ich danke dir für deine letzte Mail und bin sehr froh, dass du dem kleinen x. Raum geben kannst in deinem Leben. Das halte ich für sehr wichtig und ausgesprochen gesund.

Weißt du, ich war nie böse auf dich oder auf die Entscheidungen die du getroffen hast. Ich war traurig und ja, auch enttäuscht. Wahrscheinlich weil ich deine Zerrissenheit erahnt und gespürt habe. Ich habe nie angezweifelt, dass du wirklich wolltest und deine Gefühle mir gegenüber echt waren, aber du konntest eben nicht.

Verziehen habe ich dir schon lange, schon am 15. Februar, als wir uns weinend in den Armen lagen und uns von einander verabschiedet haben. Ich hege dir gegenüber keinen Groll und wünsche dir wirklich das allerbeste, von ganzem Herzen.

Meine Aussage, dass ich trotzdem gern hin und wieder von dir hören würde, steht nach wie vor. Vorausgesetzt, dass ist für dich aushaltbar und du möchtest es. Ich kann auch verstehen, wenn das für dich nicht in Frage kommt.

Ich wünsche dir so sehr, dass du zu dem Mann werden kannst, der du wirklich sein möchtest und ich drücke alle vorhandenen Däumchen dafür.

Fühl dich gedrückt, sehr sogar!

YYY

07.10.2020 16:46 • x 1 #5


L
Zitat von alainwest:
Das ist nicht dick aufgetragen, sondern eine Beschreibung meiner Situation.

Unabhängig von deiner Situation finde ich es zu dick aufgetragen und theatralisch.
Meine Meinung.

Ihre Antwort klingt sympathisch.
Ich denke, da ist alles gesagt.

Worum geht es dir hier nun genau?

07.10.2020 16:48 • x 1 #6


alainwest
Zitat von LoveForFuture:
Unabhängig von deiner Situation finde ich es zu dick aufgetragen und theatralisch.
Meine Meinung.

Ihre Antwort klingt sympathisch.
Ich denke, da ist alles gesagt.

Worum geht es dir hier nun genau?


Darum mich mitzuteilen, habe niemanden mit dem ich das sonst so teilen kann.

07.10.2020 16:50 • x 1 #7


L
Finde es sehr schön, dass ihr im Guten auseinander gegangen seid.
Das spricht für euch und hilft mit der Situation Frieden zu schließen.

Dabei wünsche ich dir viel Kraft!

07.10.2020 16:56 • x 1 #8


B
Nachdem,was sie da anscheinend mit dir mitgemacht hat,klingt die Antwort doch sehr versöhnlich.Sie hat dir verziehen, weil sie damals schon wusste, dass du schwerwiegende Probleme hast und hat mit dir abgeschlossen,ohne Groll und ohne dir etwas Schlechtes zu wünschen.
Scheint eine liebe Person zu sein,der auch du nur das Beste wünschen solltest und auch abschließen solltest.

07.10.2020 17:00 • x 1 #9


B
Hallo, Alainwest,

Du hast da eine ganze Menge Baustellen, die Du noch aufräumen musst, damit Du nicht wieder eine Beziehung kaputt machst. Du hast ja von Therapie gesprochen und da wurde vieles aufgedeckt. Das ist schon mal wichtig. Aber ebenso wichtig ist es, die erkannten Verhaltensmuster, die in Dir angelegt sind, nun schrittweise zu ändern. Und das ist harte Arbeit, weil sich seit Jahren eingepflanzte Muster nicht leicht und manchmal auch gar nicht ändern lassen.

Es hängt immer alles mit allem zusammen - Kontrollzwang, Vernachlässigung und Drohungen im Elterhaus, denen Du hilflos ausgesetzt warst. Du hast schon als Kind eine instabile Ursprungsfamilie, die unberechenbar für Dich war, erleben müssen. Daraus wiederum resultieren große Ängste, insbesondere die vorm Verlassen- und Alleingelassen werden.
Deine Strategien im Erwachsenenleben: Kontrollzwang und Misstrauen, denn schließlich wolltest Du den Mist von damals nicht nochmals durchleben müssen. Und außerdem Wut als Folgeerscheinung, weil man Deine kindliche Seele beschädigt und Dich schlecht behandelt hat. Offenbar war die Wut mächtig und richtete sich dann ausgerechnet gegen den Menschen, den Du doch halten wolltest.

Klar ist das kontraproduktiv, weil Du damit das erreichst, was Du vermeiden willst - die Trennung.

Als Erwachsener lebst Du immer das nach, was Du schon früh erlernt und abgeschaut hast. Auch Verhaltensmuster der Eltern werden oft unbewusst übernommen.

Ich finde Deinen Brief auch etwas theatralsich, aber auch verständlich, denn er erklärt vieles und das kommt an. Auch bei ihr. Sie hat Dir eine ausnehmend empathische Antwort gegeben, die meiner Ansicht nach ein schönes Schlusswort ist. Daher - was willst Du darauf denn noch antworten?
Belass es doch dabei, denn es ist jetzt sozusagen vollständig. Sie ist Dir nicht böse, sie wirkt mitfühlend und verständnisvoll - offenbar eine innerlich reife Frau, die Dir nichts nachträgt.

Mehr als solch eine Antwort kannst Du nicht erwarten und damit sei so großzügig und überlasse ihr das letzte Wort.
Wenn Du es nicht lassen kannst, dann schreib ihr nur ein Danke und nicht mehr. Sie hat Dir sozusagen die Absolution erteilt und ihr geht im Frieden auseinander, was Dir eigentlich auch ein gutes Gefühl geben müsste.

Ich wünsche Dir, dass Du irgendwann Dein Kindheitstrauma überwinden kannst. Es ist so schlimm, was Eltern einer sensiblen Kinderseele antun, aber auch sie sind ja schon beschädigt und haben ihre Muster übernommen. Daher setzen sich solche Dinge oft über Generationen fort.

Ich denke, Du bist der erste in einer längeren Reihe, der sich mit seinen inneren Dämonen befasst und Zugang zum Inneren Kind findet. Es wäre eine gute Lebensaufgabe für Dich, wenn Du derjenige wärst, der ein Generationentrauma auflöst und sich von schädigenden Verhaltensweisen verabschieden kann.

Begonie

07.10.2020 17:08 • x 2 #10


Femira
Also... Ich mag den Brief. Sehr sogar.

Ich finde ihre Antwort ebenso passend und liebevoll.

07.10.2020 17:20 • x 5 #11


A
Zitat von alainwest:
Das ist nicht dick aufgetragen, sondern eine Beschreibung meiner Situation.


Worum geht es dir denn genau?

Um eine Rückmeldung hier im Forum bzgl. Deinem Brief?
Wolltest du das einfach nur an irgendeiner Stelle niederschreiben und es soll gar nicht kommentiert werden?

Also ich finde deinen Brief für dich selbst sehr gut , als Brief an die Ex viel zu viel.
Ihre Reaktion finde ich sehr nett, hat in meinen Augen im Bezug auf Anziehung nicht mehr viel im Tank.

Ich hoffe mal, dass Du nicht noch insgeheim hoffst?
Denn mit solchen Briefen erreichst Du da glaube ich eher das Gegenteil, nämlich Mitgefühl/ Mitleid.

Du sprichst von einem vorletzten Brief.
Möchtest Du noch einen schreiben?

07.10.2020 17:34 • #12


alainwest
Ich hatte dieser Frau vor fast 8 Monaten mitgeteilt, dass ich meine Eltern-WG nicht verlassen kann, da ich es nicht schaffe ohne mein Kind zu wohnen.

Sie hat 5 Monate gelitten, mir geschrieben, gesagt sie wäre zu jeder Zeit wieder bereit. Ich war die ganze Zeit genau so, wie sie jetzt antwortet, liebevoll, aber beständig. Jetzt habe ich letzte Woche meinen Fehler erkannt und es war mir ein Bedürfnis sie für das beigebrachte Leid um Verzeihung zu bitten.

Es ist jetzt zu spät, sie schrieb sie habe durch harte Arbeit jemand an sich heranlassen können. Ich habe 2 Monate zu lang gebraucht. Ich bin kaputt. Ich will heilen, aber es dauert.

Keiner von uns hatte je eine so innige und tiefe Verbindung zu jemand anderem. Ich erkenne jetzt, was sie die letzten Monate durchgemacht hat, ich hatte alles verdrängt, innerlich nicht wirklich Schluss gemacht. Alles nur, weil ich Angst hatte.

07.10.2020 17:48 • x 1 #13


A
Zitat von alainwest:
Ich erkenne jetzt, was sie die letzten Monate durchgemacht hat, ich hatte alles verdrängt, innerlich nicht wirklich Schluss gemacht.


Bist Du Dir sicher , dass für deine eigene Verarbeitung Sie als Adressat deiner Briefe gut ist?

Du reißt doch immer wieder eine Wunde auf.
Ich kann nachvollziehen, dass es Dir danach ist ihr deine neuen Erkenntnisse mitzuteilen.

Das hast du spätestens mit deinem Brief.

Mein Rat:
Belass es dabei.

07.10.2020 17:51 • x 1 #14


alainwest
Wir waren in stetem Kontakt, diese Mail habe ich nicht aus dem Nichts verfertigt, deswegen war sie schon noch die richtige Adressatin, zumal wie erwähnt auch ihre Verarbeitung teilweise in Texten mit mir stattfand.

Die Wunde ist bei mir erst eine Woche alt, die heilt ohnehin erst ab jetzt.

Ich fand es wichtig ihr das mitzuteilen und habe ihr abschließend nun für ihre lieben Worte gedankt und mitgeteilt, dass ich mich fernhalte, damit sie nicht auf Nachricht wartet.

07.10.2020 18:44 • #15


A


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