Guten Morgen Finchen,
schön, wie du auf das Bild eingehen kannst. Dann machen wir doch einfach weiter damit.
Zitat:Dein Bild vom Straßenrand ist äußerst treffend, so in etwa fühlte es sich die ganzen Monate an. Ich bin immer nach links gegangen, um sehr schnell festzustellen, dass der Weg nur kurz ist und ich schnell an die nächste Kreuzung komme, über die ich irgendwie nicht rüberkomme. Mein Mann ist quasi vorausgegangen, ohne mir die Hand zu reichen und mir beim Überqueren zu helfen. Also bin ich stehen geblieben.
Richtig. Jetzt hat er die Hand aktuell aber weit ausgestreckt. Hast du das Gefühl, dass er damit die große Distanz zu dir nicht mehr überbrücken kann? Spürst du noch eine Berührung? Oder siehst du nur die Hand, bist aber insgeheim froh, dass sie dich nicht berührt, weil du nicht mehr von ihm berührt werden willst? Berührt dich das alles also gar nicht mehr, weil du über den Scherbenhaufen, den er angerichtet hat, gar nicht mehr hinwegsehen kannst? Findest du irgendwo in diesem Chaos noch Gefühle? Oder ist das Bedürfnis, zur linken Seite zu gehen, in erster Linie dem Umstand geschuldet, dass man eine Ehe nach so langer Zeit nicht einfach so aufgibt?
Solltest du das so empfinden wie im letzten Satz, dann ist dieses Gefühl nicht falsch. Man gibt eine Ehe nach so langer Zeit tatsächlich nicht einfach so auf. Allerdings kann von einfach so bei euch auch schon lange nicht mehr die Rede sein und es geht nun bei der Rechts-Links-Entscheidung in erster Linie um deine persönlichen
Grenzen, die du respektieren solltest. Deine Anpassungsfähigkeiten sind begrenzt und sie dürfen auch begrenzt sein. Man kann sie in der Aussicht auf Heilung kurzfristig überschreiten, aber niemand kann dauerhaft mit brennenden roten Kontrollleuchten ein erfülltes Leben führen. Wenn ein Flugzeug zu schnell sinkt und ein Absturz droht, brüllt im Cockpit eine Stimme sinkrate, sinkrate! die kann man nicht abstellen, die schreit weiter. Und wenn du solch einen Alarmruf permanent im Ohr hast, dann bist du in der falschen Richtung unterwegs, dann musst du etwas tun um nicht abzustürzen.
Zitat:Auf der rechten Seite kommt direkt die erste Kurve, so dass ich nicht sehen konnte, wie dieser Weg weitergeht. Aus Angst bin ich diesen Weg nicht gegangen. Nach fast zwölf Monaten, 4 Ausflügen zu seiner Mutter und nun fünfeinhalb Wochen ohne ihn, habe ich mich vorsichtig nach rechts getraut und schon mal um die erste Kurve geschaut und ich muss sagen, es ist gar nicht so schlimm, zumindest nicht schlimmer als die linke Seite.
Das ist er erste Schritt zur Entscheidung, das ist noch lange nicht der letzte, da kommen noch andere, du gehst noch nicht wirklich, du versuchst nur festzustellen, was auf die zukommen könnte.
Das ist gut so, ich rate tatsächlich zu intensiven worst-case-Szenarien. Ich rate dazu, Eventualitäten zu Ende zu denken, die erst im intensiven Durchspielen der Situation auftauchen. Also auch dann weiter denken, wenn es weh tut, gerade dann. Denn dann ist man aktiv gegen die Angst unterwegs. Ach die also klar, wie deine finanzielle Situation zu optimieren ist, und zwar so pragmatisch wie möglich, inklusive aller Hilfsangebote, die zu bekommen sind. Plane den Unterhalt ein, aber mach dich davon nicht abhängig. Rechne mit seiner Wut, wenn du seine Bitte nicht erhörst, aber habe keine Angst davor, denn du wirst gegen seine Wut Verbündete haben. Spiel das also durch, schau um die nächste Ecke. Aber bereite dich jetzt auch darauf vor, wirklich
loszugehen.
Zitat:Und sowohl die Distanz zu ihm, als auch die Zeit und die verschiedenen Sichtweisen von anderen Menschen, machen mich mutig, rechts weiter zu gehen. Inzwischen fühle ich immer mehr, dass ich ihn rechts nicht vermisse und mich so langsam aufrichte aus meiner gebückten Haltung. Ich bin zu oft eingeknickt, als dass ich es wagen würde, zu sagen: Ich bin mir sicher, dass ich auf diesem Weg bleibe. Ich traue mir da selbst noch nicht 100 %ig über den Weg. Aber die letzten Tage merke ich, dass ich immer zuversichtlicher werde, dass Rechts meine Zukunft liegt und mir der Duft der von Dir angesprochenen Freiheit in der Nase kitzelt. Ich bin also schon vorsichtig losgegangen.
Ich lese es und ich will es glauben, spüre aber noch den zögernden Schritt. Darum gebe ich dir noch ein anderes Bild an die Hand, ich mag solche Bilder und sie haben schon vielen geholfen. Wenn es dir zu albern ist, geh einfach nicht darauf ein, das macht nichts.
Wenn man so kurz vor einer Trennung steht, die sich lange angekündigt hat, dann fühlt man sich manchmal wie an einem langen Seil hängend. Man ist immer tiefer gerutscht, hat aber zwischendurch auch wieder einige Meter nach oben geschafft. Das Seil hängt völlig im Dunkeln von einer Hallendecke. Die Plattform oben ist sehr weit weg und man müsste sehr viel Hilfe bekommen, um noch mal nach oben zu gelangen. Irgendwann hängt man am Ende des Seils und es geht nur noch um das Loslassen, denn man weiß nicht, wie groß der Abstand zum Boden ist, man sieht ja nichts. Man glaubt immer, das müssten noch mehrere Meter sein, und wenn man die Angst besiegt hat, könnte man feststellen, dass es nur noch 20cm waren und völlig harmlos. Und dann steht man unten und kann im Dunkeln losgehen.
Es geht also auch bei diesem Bild um das Besiegen der
Angst. Ängste sind normal, Ängste sind gut und schützen uns. Aber Ängste stammen fast immer aus einem Erleben in einem anderen Zusammenhang, wenn wir sie in einer solchen Situation empfinden, für die wir ja kaum Erfahrungen haben. Eine solche Trennung, wie du sie auf der rechten Seite vor dir hast, ist einmalig. Auch wenn man schon andere Trennungen erlebt hat, ist das etwas Neues. Da dürfen Ängste da sein. Aber sie stammen wie gesagt aus einem anderen Zusammenhang. Hier in diesem Kontext treffen sie oft gar nicht zu und man entwickelt bestenfalls Fähigkeiten zur Bewältigung, die man bei sich gar nicht vermutet hatte.
Was dir fehlt ist also die
Bewältigungsgewissheit, die Gewissheit, das bewältigen zu können. Aber wenn du zurück schaust, welche großen und angstmachenden Probleme du in deinen 50 Jahren alle schon bewältigt hast, kann das sehr gut dabei helfen, Mut zu fassen, loszugehen und die Bewältigungsgewissheit zu entwickeln und zu stärken. Vertrau auf deine Kraft, deine Helfer und bleib fair deinem Mann gegenüber. Das zahlt sich aus. Du musst ihn nicht hassen, du musst nicht wütend sein. Es reicht die Einsicht, dass es auf der linken Seite nicht mehr geht.