Ich erzähle Dir noch eine Geschichte von meiner Freundin.
Vor einigen Jahren, so im Jahr 2018 oder so eröffnete ihr der Ehemann, dass sie reden müssten und er ausziehe. Das war es dann auch schon mit dem Reden müssen, denn sein Entschluss stand fest. Er hatte ein neues Nest bei einer Wittwe mit eigenem Haus gefunden, die ihn anhimmelte und alles für ihn tat, denn sie war ja froh, einen wie ihn abbekommen zu haben. Innerhalb von zwei Stunden war er weg, nachdem er das Nötigste zusammen gepackt hatte. Der Rest war Schweigen.
Langjährig verheiratet, drei Kinder, die schon ziemlich groß waren (der Jüngste 17 oder 18), Haus, das volle Programm. Die Ehe wirkte auf mich immer merkwürdig, denn es gab eine Vierergruppe die zusammenstand (sie und die Kinder) während er irgendwie draußen stand und sich immer mehr aus dem Familienleben absentierte und zunehmend mehr Zeit in seinem Büro verbrachte.
Die älteste Tochter hatte Morbus Crohn und ging in ein Auslandsjahr nach Schottland. Nachdem sie einige Monate dort gewesen war, ging sie zum Arzt, weil es ihr nicht gut ging. Vermutlich ein neuer Schub. Der Arzt schickte sie ins Klinikum in Edinburgh und die Diagnose lautete Darmkrebs. Mit 23 Jahren. Meine Freundin war mehr in Schottland als daheim und der Vater weit weg und lebte ja jetzt ein besseres Leben. Seine Kinder waren nicht mehr so wichtig, denn da war ja jetzt ein neues Leben. Er verweigerte auch ein Gespräch mit der Tochter und die Jungs besuchten ihn einmal dort, fühlten sich aber nicht wohl. Er zahlte nur das was unbedingt nötig war und gab auch den Kindern freiwilig nichts. Alles seins! Die Kinder erinnerten ihn ja nur an das alte Leben, die gescheiterte Ehe.
Es war klar, wer sich um den Verkauf des Hauses, das Ausräumen kümmerte und obendrein die Sorgen um die Tochter hatte ... Dann die Scheidung, die sie möglichst rasch durchzog, denn sie wollte klare Verhältnisse.
Die Tochter konnte erst Monate später nach Deutschland zurückkehren, da sie auch ein Gerinsel im Gehirn hatte und als nicht flugfähig galt. Daheim noch ein paar Chemotherapien, aber es kam eines zum anderen. Erst war die Leber noch frei, dann sah sie aus wie ein Streuselkuchen ... ich kann nicht mal ahnen, wie sie das alles ertragen hat, aber eine Mutter wächst oft über sich hinaus, wenn sie muss.
Letztendes starb die Tochter und meine Freundin war ziemlich allein. Die Trauer um die Tochter, die Jungs, die zunehmend selbstständiger wurden. Der ältere studierte woanders und tut es nach einem Studiengangswechsel noch. Er hatte durch die Trennung vom Vater ein wenig die Spur verloren. Der Jüngere lernte im Hotelfach und arbeitete dort, geht aber jetzt zum Zoll.
Meine Freundin stand da, Ende 50. Mann weg, Kinder fast weg und die Tochter, zu der sie die engste Verbindung hatte, tot. Es sah nicht gerade rosig aus. Der Exmann spielte keine Rolle mehr. Der war längst weg und jeglicher Kontakt ist abgebrochen.
Eines Tages traf ich sie und wir tranken einen Kaffee. Sie erzählte von einer anstehenden Reise nach England, wo sie nochmals einige Orte aufsuchen wollte, wo sie mit ihrer Tochter gewesen war. Ich dachte mir, uh, die ist ja tapfer! Und selbstständig, wow. Ich fragte, ob sie alleine reisen würde. Sie sagte: Öh, nein.
Ich grinste und sagte: Sprich!
Ja, sie habe einen Freund, zufällig im Yogakurs gefunden. Er sei zwei Jahre älter als sie und Wittwer und lebt allein. Ich denke, er konnte auch die Verlustsituation in der sie sich befand gut nachvollziehen.
Was soll ich sagen? Sie wurden ein Paar, das richtig gut zusammenpasst. Vor wenigen Jahren zog sie in sein Haus und sie heirateten. Sie hat ihr Glück wieder gefunden und es geht ihr gut. Schlimm sind nur die Jahrestage, Geburtstag und Todestag der Tochter, die sie aber auch mit lieb gewordenen Ritualen durchsteht. Ich kannte ihn bereits flüchtig, denn er wohnt in meiner Straße ein paar Häuser weiter.
So ist das Leben. Aus großem Kummer und viel Schmerz kann ein neues, größeres Glück entstehen. Was übrigens aus dem netten Sven mit seiner Wittwe geworden ist, weiß keiner und es scheint auch keinen zu interessieren. Am wenigsten sie.
11.10.2022 14:25 •
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