Paletten
Bei der Malerei bin ich recht gut darin, Farben zu mischen. Jeder Farbton, jeder Nuance ist produzierbar. Ein angeditschtes Möbelstück in undefinierbarer Farbe? Kein Problem. Ich mische den Farbton und mit einem Tupfer der Farbe ist der Schaden behoben. Leider habe ich dazu meistens keine Lust, aber das ist ein anderes Thema.
Farbpaletten sind beherrschbar.
Was meine Gefühlspalette angeht, sieht das schon anders aus. Dieses Auf und Ab kann nervtötend sein. Zumal ja eine stabile Gefühlslage ohne große Höhen und vor allem ohne große Tiefen derzeit schon als erstrebenswert verstanden werden muss. Das Ganze ist sehr fordernd und zudem für mich auch mit der Herausforderung verbunden, bei jedem schlechten Gefühl differenzieren zu müssen, ob es sich um den Vorboten einer ernsthaft depressiven Phase handelt, der sich bei mir einnisten möchte, oder ob es einfach lediglich Traurigkeit, Wut, Angst oder was auch immer ist.
Hier mal ein OT ein Appell an alle, die zu schnell mit dem Begriff Depressionen hantieren. Oft ist das ein - für eigentlich andere Gefühle oder Gemütszustände - inflationär genutzer Begriff. Schaut genau hin, um was es bei Euch geht, und erlaubt Euch traurig o.ä zu sein, aber geht nicht leichtfertig mit der Bezeichnung als Depression um. Wer wirklich depressive Phasen hat, hat bestenfalls bereits gelernt sehr, sehr wachsam zu sein und sofort Gegenmaßnahmen zu ergreifen, sobald es nötig ist. Wer den Verdacht hat, Depressionen zu haben, sollte schnellstmöglich einen Facharzt aufsuchen.
Wie es jemandem geht, der - im Gegensatz zu mir - dauerhaft depressiv ist, vermag ich selber mir wohl nur annähernd vorzustellen. Daher möchte ich mir das nicht anmaßen.
Wer von depressiven Phasen betroffen ist oder war, kann i.d.R. bei Abwesenheit der Depression die Traurigkeit von anderen anerkennen und Mitgefühl dafür haben. Aber er wird nur müde lächeln, wenn das hochdramatisch als Depressionen bezeichnet wird, ohne eine wirkliche Depression zu sein. Depressionen sind ein anderes Kaliber in einer ganz, ganz anderen Liga. Es ist eine Modeerscheinung - ähnlich wie das Bekenntnis der Neigung zu B*DSM -, sich selber diesen Stempel aufzudrücken. Aber das ist weder toll noch Lifestyle. Es ist ein Fluch, wenn man betroffen ist.
Liebeskummer mit all seinen Empfindungen ist dagegen lediglich eine schlimme Phase, in der man sich einfach elendig fühlt, die aber vorbei geht.
Ich muss sagen, ich bin relativ entsetzt darüber, wie leichtfertig und auch unwissend viele Ärzte mit dieser Diagose umgehen.
In den dunklen Tiefen meiner Gefühlspalette habe ich mich wochen- und monatelang ohne Depressionen (!) gesuhlt. Manchmal kommen dunkle, traurige, wehmütige Gefühle und Fragen zurück - noch zu oft. Aber das ist mittlerweile eher verbunden mit einer Betrachtung der Dinge aus der Vogelperspektive. Ich schrieb es ja schon mal: der körperliche Entzug scheint abgeschlossen. Darüber bin ich froh, denn der war wirklich, wirklich heftig.
Nun stehe ich heute morgen also wieder an meiner Kaffeemaschine, die btw eine Stätte der morgendlichen Erkenntnis zu werden scheint (was 1000x besser ist, als gleich beim ersten Gedanken, noch vor dem Aufschlagen der Augen mit Urgewalt von Gefühlen überwältigt zu werden, die einen dunkel durch den Tag begleiten), und stellte fest, dass meine Stimmung heute Morgen eher mau ist. Der kleine Euphorieanflug von gestern schläft wohl noch.
Die Summe der Erkenntnisse scheint von Morgen zu Morgen zu steigen, denn ich stellte außerdem mit Erstaunen fest, dass sich eine Dankbarkeit für die Empfindungen der letzten Monate einstellt. Mögen die Gefühle auch noch so erdrückend und unausweichlich gewesen und vor allem unendlich erschienen sein.
Ich bin in der Rückschau dankbar für die Intensität der Gefühle, so sehr ich sie auch verflucht habe und mich ihnen ausgeliefert fühlte. Denn sie vermochten, die gegenwärtigen Veränderungen als positiv und die daraus resultierenden Gefühlszustände als nicht selbstverständlich zu verstehen.
Heute bin ich dankbar für die sich wieder weitende Palette von Gefühlen, vergleichbar mit der Undendlichkeit von Farbpaletten, und für die wieder spürbaren Nuancen.
Man muss allerdings auch bereit dafür sein, es zuzulassen!
10.06.2017 09:01 •
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