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Über das Kämpfen

K
In diesen Tagen fühle ich mich sehr allein. Ich vermisse meine Mutter und diese Isolation tut mir nicht gut. Es war gestern relativ voll in der Innenstadt und leer im Bürogebäude. Spontan war ich noch mit einer guten Bekannten shoppen. Ich brauchte nichts, aber so lange man es noch kann ... mir graust vor den kommenden Wochen und Weihnachten und und und.
***
Es fällt mir erneut schwer, eine Entscheidung zu treffen. Ich weiß nicht, warum das so ist, wo meine Entschlussfreudigkeit geblieben ist und wann ich sie verloren habe. Dabei hat sich meine frühere Maxime, jede Entscheidung ist besser als keine Entscheidung, für mich immer als gut und richtig bewährt. Trotzdem kriege ich es nicht mehr hin.
***
Ich hadere mit dem limitierten Leben. Jetzt wissen wir, wie gut wir es hatten und ich weiß, wie wenig ich daraus gemacht habe.
***
Mein Vater macht mir Sorgen. Er sieht schlecht aus. Es geht ihm psychisch nicht gut und ich habe Sorge, dass er sich anstecken wird.

Wenn man nichts unternehmen kann, gibt es wenig Ablenkung. Ich würde gern mit ihm ausmisten, aber er mag nicht. Eines Tages wird das alles an meinem Bruder und mir hängen bleiben. Interessanterweise ist er - oft ganz allein - mit den Sachen meiner Mutter gut voran gekommen und hat insb. die Kleidung gespendet. Das hätte ich nicht erwartet. Aber wenn es um seine Sammlungen von einfach allem geht, passiert nichts. Neulich gab er mir die Post, die meine Eltern zu meiner Geburt bekommen haben. Mehr als 50 Jahre alte Briefe haben mir die Tränen in die Augen getrieben. Macht man sich sonst als Erwachsener jemals bewusst, dass man ein willkommener kleiner Erdenbürger war? Warum hat es sich nie so angefühlt?

Mich belastet, dass da immer noch ein Boot in einer Halle steht, das er die letzten Jahre nicht losgeschlagen hat. Ich hoffe, er kriegt im Frühjahr die Kurve, denn wenigstens dem sollte Corona Vorschub leisten.
***
Es gäbe viel zu tun, aber mir fehlt die Energie. Ich fühle mich weinerlich, körperlich krank und immer noch sooooo müde.
***
Nicht zu wissen, ob ich in ein paar Tagen ans Meer fahren kann und ob ich mich vorher noch kurzfristig testen lassen muss, fällt mir schwer. Ich kann das schwer auf mich zukommen lassen, was ich sollte, weil ich es ja sowieso nicht ändern kann.
***
Alles doof.

27.10.2020 08:07 • x 14 #2461


Heffalump
Zitat von KBR:
Ich vermisse meine Mutter

Mach dir einen Altar, eine Ecke zum trauen und inne halten. Eine Kerze, die brennt, ein Parfüm, das sie trug. Es hilft.

Zitat von KBR:
wie gut wir es hatten und ich weiß, wie wenig ich daraus gemacht habe.

Du kannst noch viel tun, damit sich da die nächsten Jahre füllen. Ganz nach deiner Vorliebe.

Zitat von KBR:
Mein Vater macht mir Sorgen

Auch er trauert. Die Arbeit der Trauer beginnt erst in den Monaten nach dem Verlust. Das wortwörtliche Begreifen.

Zitat von KBR:
Ich würde gern mit ihm ausmisten, aber er mag nicht

Verständlich. Alles was einst, warum auch immer, aufgehoben wurde - kann jetzt nicht entsorgt werden, als würde man der Seele den Schutzmantel ausziehen.

Was wir alles fanden, als Papa ging - der Wahnsinn. Man kann versuchen, vorher auszumisten - aber man könnte auch versuchen zu verstehen, warum er das und dies aufheben will, die Geschichte dahinter finden.

27.10.2020 08:14 • x 4 #2462


A


Über das Kämpfen

x 3


A
Zitat von KBR:
In diesen Tagen fühle ich mich sehr allein.


Zitat von KBR:
Alles doof.


Ach Mensch hey, das klingt auch alles echt kagge...
Ich geb Dir mal was von meiner zur Zeit positiven Energie ab und schick sie zu Dir...
und eine dicke Umarmung!

27.10.2020 08:21 • x 3 #2463


Jane_1
Das ist auch alles viel. Und ich glaube, dass die Zeit vor dem Tod deiner Mutter immer noch an dir zehrt. Wir halten uns immer für so stark und sind es auch, aber irgendwann geht es nicht mehr.

Ich habe mich erst kürzlich sehr zurück gezogen, um Kräfte zu sammeln. Das war auch zuerst nötig und gut. Irgendwann habe ich aber gemerkt, dass ich in eine sehr schlechte Stimmung rutsche und dass das damit zu tun hat. Zuviel Einsamkeit bekommt den meisten Menschen nicht. Kann es sein, dass du dich allein fühlst, weil du auch viel alleine bist?

Ich wünsche dir, dass du ans Meer kannst, das ist so gut für die Seele.

27.10.2020 21:01 • x 1 #2464


W
Zitat von KBR:
Es fällt mir erneut schwer, eine Entscheidung zu treffen. Ich weiß nicht, warum das so ist, wo meine Entschlussfreudigkeit geblieben ist und wann ich sie verloren habe. Dabei hat sich meine frühere Maxime, jede Entscheidung ist besser als keine Entscheidung, für mich immer als gut und richtig bewährt. Trotzdem kriege ich es nicht mehr hin.


Liebe @KBR
Du bist hier m.M.nach viel zu hart mit Dir selbst.
Wandelnde Zeit, wandelnde Verhalten, wandelndes Weltverständnis.
Kein Grund, Dir extra auf die Glocke zu dongsen.
Sei milde mit Dir bitte, das hilft der Seele eher.

Zitat von KBR:
Jetzt wissen wir, wie gut wir es hatten und ich weiß, wie wenig ich daraus gemacht habe


Und hier bist Du viel zu streng mit Dir selbst...m.M. Nach.
Du weißt, dass das wohl nur die halbe Wahrheit ist.
Hättest Du den heutigen Weisheitsstand damals gehabt, hättest Du....hattest Du aber noch nicht.
Lass die Gefühle zu und raus, ja. Auch solche Gedanken dürfen.


Zitat von KBR:
Es gäbe viel zu tun, aber mir fehlt die Energie. Ich fühle mich weinerlich, körperlich krank und immer noch sooooo müde


Ja. Nimm es an. Der Weg aus der Angst und Trauer ist und bleibt einfach...
Mitten durch sie durch.

Du bist so müde. Ja. Ruh Dich weiterhin aus.

Musste ich nochmal aufzählen, in der Hoffnung, Du kriegst einen Fitzel davon zu fassen, was ich meine.

Drückung meine Liebe mit Liebe! Strenge mit Dir selbst, wenn Du am Boden liegst...ist...

das lass ich mal Dich zu Ende denken

(Ich würde gerne ohne Blatt sagen: KBR, jetzt hör sofort auf, so hart zu Dir zu sein!
Is alles mehr als blöd, aber nu, Du willst doch kein Diamant werden, oder? )

27.10.2020 21:20 • x 1 #2465


Mad-Eye
@ KBR
Das klingt nicht gut. Ich hab kaum was gelesen. Eigentlich jetzt nur die letzte Seite. Du steckst grob gesagt in einer depressiven Phase drin. Das ist nicht schön.

Da Menschen sehr unterschiedlich sind (und ich kein Psychoanalytiker bin) kann ich dir eigentlich nur sagen: Halte durch!

Ich war über dreissig Jahre (ohne es zu wissen) ganz furchtbar häufig sehr schlimm depressiv. Ich bin so aufgewachsen. Auf die Idee, dass das irgendwie ein Krankheitsbild sein könnte, kam ich nie. Erst durch einen puren Zufall, bin ich sozusagen aufgeklärt worden.

Ich habe vier Selbstmordversuche hinter mir. Dazu bin ich häufiger befragt worden, wieso ich überhaupt dazu gekommen bin, eben diese Versuche zu haben. Die Antwort ist eigentlich sehr einfach: Wenn Mann/Frau keinen positiven Gedanken mehr hat, wenn alles was vielleicht noch kommen mag, nur noch dunkel und schwarz gesehen werden kann (unser Gehirn arbeitet in Zukunftsversionen mit den Erfahrungswerten die bisher geschehen sind), dann gibt es in unserem Kopf einfach keine Hoffnung mehr. Und ein Mensch ohne Hoffnung stirbt. Ist leider so.

Ich konnte mir Jahrzehntelang nichts positives für meine Zukunft vorstellen, folglich habe ich bei so ziemlich allem versagt, was ich tun wollte.
Mein ehemaliger Therapeut fragte mich jedoch vor knapp sechs Monaten: Was wenn nicht?
Daraufhin habe ich mich im Mai darauf eingelassen. Mich auf eine Situation eingelassen, die ich niemals sonst angenommen hätte. Ich hatte Angst, hab es aber gemacht. Zu verlieren hatte ich ja eigentlich nix mehr.

Und sch. war das hart. Die genauere Beschreibung gibt es vielleicht mal (eigentlich habe ich mich deswegen hier im Forum angemeldet, aber dafür brauch ich noch ein wenig Zeit)
Es war schlimmer als ich es jemals vermutet hätte. Ich habe regelmäßig geheult und geflennt, weil der sch. so weh tat.

Nach jetzt rund sechs Monaten weiß ich leider nicht wo ich stehe, aber ich merke sehr genau, das ich mich weiterbewegt habe. Weil ich mich bewegt habe.

Und darum gehts. Du musst dich bewegen. Nur einfach hier zu schreiben ist eine Sache, geh aber einfach weiter und suche dir noch ein anderes Forum oder noch mehr. Wechsel deine Gewohnheiten. Ändere deine Perspektive. Verlasse deinen alten Pfad.

Ich habe fast nix bisher erreicht von den Dingen, die ich durch meine Bewegung erreichen wollte, aber ich merke an mir selbst, wie sehr ich mich verändert habe, einfach weil ich meine eingefahrenen Schienen verlassen habe. Und wenn du wieder trostlos und ohne Hoffnung bist, halte das aus. Es wird sich wieder ändern. Das ist dein Kopf. Nur dein Kopf. Den kannst du ändern. Einfach, indem du etwas tust, was du noch nie vorher getan hast.

Trau dich und ändere deine eingefahrenen Schienen. Eine Garantie gibt es nicht, aber du wirst merken, das du dich bewegst.

27.10.2020 23:36 • x 1 #2466


Lebensfreude
@KBR ich drück dich mal ganz fest.
Und schick dir Energie, Licht und Liebe.

27.10.2020 23:51 • x 1 #2467


L
Zitat von KBR:
Es gäbe viel zu tun

Was ist denn grade so wichtig und muss getan werden?

Liebe KBR,

du bist erschöpft und das hat ja nachvollziehbare Gründe.

Waspy und Jane haben es ja schon gesagt, sei nicht so hart zu dir.

Hast mal daran gedacht, dich krank schreiben zu lassen?
Oder tut dir die Arbeit (Ablenkung) gut?
Du wirst es selbst am besten wissen.

Auch von mir einen dicken Drücker

Zitat von KBR:
Es fällt mir erneut schwer, eine Entscheidung zu treffen.


Lass dir Zeit bis du dafür wieder die Kraft und Energie hast.

28.10.2020 19:24 • x 1 #2468


K
4.35 Uht. Seit fast zwei Stunden bin ich wach. Ich bin nicht müde, aber ich werde müde sein im Laufe des Tages, wenn ich topfit sein sollte.

@all: Ich danke Euch für aufmunternden, mitfühlenden und auch mahnenden Worte in den letzten Beiträgen.

@T4U zurzeit trage ich fast immer etwas von meiner Mutter. Schmuck oder einen Schal. Ich hoffe auf ruhigere Zeiten, in denen ich Erinnerungen ordnen kann. Zum Grab gehe ich 20 Minuten, aber am Sonntag war es nicht schön dort. Es waren viel zu viele Spaziergänger und Sportler auf dem Friedhof unterwegs. Der reinste Herdentrieb. Ich fühlte mich, dünnhäutig wie ich bin, wie auf dem Präsentierteller und hatte das Bedürfnis, mich schützend vor meine Mutter zu stellen und den Leuten zu sagen, sie sollen sie in Ruhe schlafen lassen.

Tatsächlich setzt die Trauer jetzt zunehmend bei mir ein. Was meine Vater angeht und das Ausmisten: bezüglich der Sachen meiner Mutter war er sehr strange dabei. Die meiste Kleidung zum Beispiel ist schon gespendet worden. Bei seinen eigenen Sachen tut er sich schwerer.

@Arjuni Schön, dass Du ab und zu ins Forum und zu mir schaust. Ist Deine positive Energie mit der Bahn unterwegs gewesen? Leider hat sie starke Verspätung

@Jane_1 Tatsächlich, ja, ich komme jetzt erst ein bisschen geistig zur Ruhe, was den Tod meiner Mutter angeht. Körperlich bin ich immer noch total erschöpft. Tatsächlich aber halte ich mich nicht für sonderlich stark und habe auch nicht den Anspruch, das zu sein oder als stark zu gelten. Ganz im Gegenteil. Wenn mir jemand das sagt, kommt bei mir an, dass ich mit meinem Belangen nicht gesehen werde, weil ich damit ja allein klar komme oder kommen muss.

Es ist dann wie ein rustikales Schulterklopfen verbunden mit den Worten Du machst das schon und den Gedanken machst du ja immer, also muss sich auch sonst niemand darum kümmern oder dafür interessieren. Ich fühle mich also ziemlich verloren und wäre froh, wenn mich außer mir selbst gelegentlich auch mal jemand finden würde.

Ich habe den (meinen) heiligen Gral nicht vergessen. Kommt.

@Waspy Schön, dass auch Du ab und zu reinschaust. Ich dongse mir gar nicht auf die Glocke. Ich würde nur gern endlich in dieser einen Sache eine Entscheidung treffen, damit ein paar Gehirnzellen frei werden. Ich verschwende darauf zu viele Aufmerksamkeitseinheiten, die ich für anderes gebrauchen könnte.

Zitat von Waspy:
Hättest Du den heutigen Weisheitsstand damals gehabt, hättest Du....hattest Du aber noch nicht.


Damit hast Du sehr Recht. Ich werde mir das vor Augen halten, wenn wieder einmal ....

Ich habe nicht das Gefühl, streng mit mir zu sein. Eher habe ich das Gefühl, wie eine Blume zu sein, die sich bzw. den Kopf hängenlässt und ihn nicht wieder aufgerichtet bekommt.

Zeit zum Ausruhen ist noch lange nicht. Ich funktioniere, wie die vielen anderen Menschen, die gerade versuchen, diesem Pandemiewahnsinn nicht nur privat sondern auch beruflich etwas entgegen zu setzen.

@Mad-Eye Vielen Dank für die Mühe, die Du Dir mit Deinem Beitrag gemacht hast.

Tatsächlich bin ich müde, kaputt und mutlos, aber wenn ich Depressionen habe, fühlt sich das anders an. Ich bin auf der Hut, weil geübt. Leider. Deine Erfahrungen zu teilen, ist dennoch hilfreich.

Dein Beitrag hat dazu geführt, dass ich überprüfen werde, ob ich noch richtig justiert bin in dieser Beziehung, denn so ein Krankheitsbild kann sich ja auch verändern. Davon abgesehen hat er mich auf das zurück geworfen, was ich selber immer predige: wenn Du auf einem Weg nicht zum Ziel kommst, versuch einen anderen.

@Lebensfreude Danke! Kann es sein, dass Energie und Licht mit @Arjunis positiver Energie im gleichen Zug gesessen haben?

Die Liebe ist angekommen.

@LH4 Ich denke, ich werde in diesem Jahr noch eine Auszeit nehmen (müssen), denn ich laufe auf Reserve. Es ist ein bisschen problematisch aus dem Grund, dass bei uns fast alle arbeiten, auch wenn sie krank geschrieben sind. D.h. wer nicht mit 40 Grad Fieber im Bett liegt, checkt seine Post usw. Ich finde das unmöglich und versuche, das nicht zu tun, wenn ich krank bin, weil es einfach dem Gesundwerden widerspricht und wir uns in der Erschöpfungsspirale immer weiter nach oben schrauben, statt sie zu durchbrechen.

Zum Glück gibt es Kolleginnen, die das wie ich sehen und handhaben. Aber ganz schlimm ist, dass Chefinnen und Chefs das dulden bzw. fördern, statt für strukturelle Veränderungen Sorge zu tragen.

03.11.2020 06:32 • x 7 #2469


K



Ich würde nicht alles unterschreiben, aber das Allermeiste.

05.11.2020 06:31 • x 5 #2470


K
[i][color=#0080BF]Gezeitenwende

Ebenes Land
öffnet sich in mir.
Hinter den Augen
wehen ferngelebte Wahrheiten.
Lang zum Horizont
breitet altes Wissen
weiche Farben aus,
sinkt mir der Atem
tief in Gras,
machen sich meine Träume auf
zum Weg
über dem Rippenbogen.

Und ich steh
und schau.

Komm,
leg deinen Finger
in meine Wunde
und ich
entblöße mich.

Ich bin der Sturm
in deinem Haar
Du bist der Riss
in meinem Segel

Tränentief
berührst du
mein Heimatland.
[/i]

(frei nach Brigitte Heidebrecht)[/color]

18.11.2020 06:15 • x 5 #2471


G
Liebe @KBR ,

auch ich habe meinen Papa verloren. Am 4.11.2020 war sein zweiter Todestag und ich bin immer noch voller Trauer. Ich habe ihn mit meiner Mama gepflegt und wir (seine Kinder) haben ihn beim Sterben begleitet. Es war eine schlimme Nacht und ich bin wahrscheinlich traumatisiert von der ganzen Pflegezeit und der Sterbenacht. Ich bin Buchhalterin und keine Pflegekraft und habe noch nie so viel Leid gesehen und erlebt wie in dieser Zeit.

Was ich sagen will:

ich weiß wie verloren du dich fühlst. Ein Stück Kindheit ist gestorben. Der Tod eines Elternteils reißt ein großes Loch ins Herz und es bleibt da. Es wächst nicht zu. Meine Mama ist 83 Jahre und meine Großeltern sind schon lange tot, aber sie vermisst ihre Eltern jeden Tag schmerzlich.

Du bist nicht alleine. Wenn du mit jemandem deine Trauer teilen möchtest, dann darfst du mir gerne eine PN schreiben. Ich bin da.

18.11.2020 08:18 • x 1 #2472


K
gelöscht

27.12.2020 12:47 • #2473


K
[b](M)Ein bewegtes Jahr

Da liegt es hinter mir; das wohl bewegteste Jahr meines Lebens. Manchmal weiß ich nicht, wie alt ich bin. Dafür sind das Alter und der übervolle überforderte Kopf verantwortlich. Zum Glück weiß ich immer, welches Jahr wir haben. Dann muss ich rechnen. Achja, 51. Aber eigentlich ist das auch egal.

Zum Ende letzten und Beginn diesen Jahres gab es die Unsicherheit, ob die geplante Traumreise stattfinden würde. Dann kam mein Gepäck doch noch an am vorletzten Abend vor der Abreise. Bis dahin Improvisation im Schnee. Mein Güte, was hat mich das alles gestresst. Es kommt mir vor, als wäre es ewig her. Hätte ich gewusst, was noch auf mich zukommt in diesem Jahr, hätte ich es kalt lächelnd auf einer Morsbacke abgesessen. Nein, vermutlich hätte ich mir verboten zu fahren. Heute bin ich dennoch froh, dass ich es getan habe. U.a. diese Reise hat mich bisher Corona leichter ertragen lassen.

Als ich zurückkam, Anfang März, war Corona. Erst war es noch sehr weit weg. Und eine Mitreisende, die zurück musste ins heimische H*insberg, war eher eine Exotin.

Doch es rückte näher. Wir machten mit vereinten Kräften das Beste aus dem Lockdown im Frühjahr und entwickelten neue Rituale. Wöchentliche Corona-Spaziergangs-Runden führten uns zu unserer Corona-Bank im Park. Dort wurden Ostern und Geburtstage gefeiert. Fast alles eher noch als ein Spiel als tatsächliche Bedrohung. Meine Mutter fand es so schön, wenn ich ihr davon erzählt habe.

Das Corona bedingte Ehrenamt ließ dringend erforderliche Freizeit schrumpfen.

Als meine Mutter zum ersten Mal ins Krankenhaus kam und wir sie nicht besuchen konnten, war Corona schon sehr viel näher gerückt. Doch noch größer war die Sorge um meine Mutter wegen ihres Zustandes aufgrund der vorhandenen Erkrankungen. Das war im Mai. Der zweite Krankenhausaufenthalt im Juni.... Besuche waren immer noch nicht möglich. Der dritte Aufenthalt im Juli... da durften wir sie wieder besuchen. Damals dachte ich, es wäre den Lockerungen zu verdanken gewesen oder einer gewissen Corona-Bestimmungen-Durchsetzungsmüdigkeit. Heute denke ich, es war ihr Gesundheitszustand, der der traurige Grund für die Erlaubnis war. Ich war zu durcheinander, um das damals zu hinterfragen.

Dann ihre Rückkehr nach Hause. Austherapiert. Die Organisation der Pflege und aller weiteren Belange nach der Entscheidung, ihr ihren Wunsch zu erfüllen, sie zuhause sterben zu können. Ich habe geglaubt zunächst, dass wir noch Wochen oder Monate haben würden, um Abschied zu nehmen. Ich habe sogar geglaubt, dass es eine zwar traurige, aber doch auch schöne Zeit voller Nähe werden würde.

Die Begleitung auf ihrem letzten Weg war wohl das Herausforderndste und Intimste zugleich, was ich jemals tun musste und wollte. Es ging dann doch viel schneller als angenommen. Es war dennoch traurig, schön und ich habe uns als einander sehr nah empfunden. Noch heute bin ich dankbar über die tief in mir verwurzelte Gewissheit, dass sie sich sicher gefühlt zu haben schien, als sie ging, und auch darüber, dass ich bei ihr sein durfte.

Die Trauer jedoch hat mich immer noch nicht nicht richtig erreicht, denn es gab kaum Zeit zum Innehalten.

Der August war geprägt von einer Geschäftigkeit, die Trauer kaum zuließ. Mein Vater und mein Bruder waren wie parallelisiert und ich schaltete auf Autopilot. Corona hielt uns auch in diesem Zusammenhang in Atem. Die Trauerfeier war kaum planbar, da die Regelungen sich ständig änderten. Die Pastorin war zunächst noch 2,5 Wochen im Urlaub und hat dann am Tag der Trauerfeier eigentlich alles verpatzt, was man verpatzen kann. Einziger Trost: mein Vater war zufrieden mit dem Ablauf der Trauerfeier.

Die Erkenntnis: es gibt Pastoren bzw. Pastorinnen, die eine so unglaubliche Fehlbesetzung sind, dass es eine Zumutung ist.

Am Tag der Beisetzung fiel die Pastorin aus, weil sie unter Corona-Verdacht stand. Zu diesem Zeitpunkt hat sie fünf Wochen nach dem Tod meiner Mutter das wohl erste seelsorgerische Gespräch mit einem von uns geführt. Allerdings war die Neigung erkennbar, die Dinge so zu drehen, wie sie denn der guten Christin nun mal so passten. Während sie uns vor der Beisetzung bekniete, diese auf gar keinen Fall ohne pastoralen Beistand stattfinden zu lassen (wollten wir gar nicht, aber im Zuhören war sie nicht so gut), erklärte sie mir 1,5 Stunden vor der Beisetzung, sie könne nicht kommen, einen Ersatz gäbe es nicht, aber wir als Familie wären nach ihrem Eindruck so gut aufgestellt, dass wir das auch ohne pastoralen Beistand schaffen würden.

Ja, natürlich. Sie als Pastorin war ja auch der Wunsch meiner Mutter und nicht der von uns Hinterbliebenen.

Mit dem Infektionsverdacht war meine unmittelbar danach geplante Auszeit - eine Woche DK - auch in Gefahr. Die Beisetzung war dann anders und somit auch besonders. Im Anschluss - auch das war anders - gingen mein Vater, mein Bruder und ich in den Biergarten und ließen vieles noch einmal Revue passieren. Eine irrsinnige Zeit lag hinter uns. Als Familie hat sie uns dichter zusammen gebracht.

Ich habe mich heute noch nicht davon erholt. Ich bin heute noch die Tränen der Anderen leid, die sie bei mir auch heute noch platzieren, während meine bisher nach wie vor eher spärlich geflossen sind.

Der DK-Urlaub konnte letztlich stattfinden. Doch es war ein Desaster. Mein (ehemals) bester Freund mutierte dort bzw. schon auf dem Weg dorthin zu der schrecklichsten Reisebegleitung, die ich mir je habe vorstellen können. Ich hätte mir gewünscht, zur Ruhe zu kommen, und war der irrigen Annahme, der Verlust seiner eigenen Mutter ein paar Monate davor würde ihn annähernd wissen lassen, wie kaputt, müde und traurig ich bin. Dem war nicht so. Er war eine Fleisch gewordene Dauerprovokation. Wieder zuhause war ich genauso gestresst wie und noch erschöpfter als zuvor.

Als sichere Bank und mit Erholungsgarantie buchte ich infolgedessen eine Woche Nordsee in Deutschland für Anfang November. Dann erneuter Lockdown. Dieser Urlaub fiel aus. Reisen verboten. Manchmal ist das Leben echt ein A-Loch - manchmal sogar ein ganzes Jahr lang.

Doch fast nebenbei geschah etwas Wunderbares und vollkommen Unerwartetes, das mich überwältigt, weich und zuversichtlich macht. Und so bin ich zum Jahreswechsel eine zwar traurige, sehr erschöpfte aber unendlich glückliche und dankbare Frau.

Das Leben spielt immer nach eigenen Regeln.[/b]

27.12.2020 12:49 • x 8 #2474


Jane_1
In der Tat ein sehr ereignisreiches und anstrenges Jahr (bei mir auch).

Um so mehr freut mich der vorletzte Satz. Was immer es auch sein mag, genieß dein Glück:)

27.12.2020 13:22 • #2475


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