Hi all- ich habe einen interessanten (glaube ich halt) Artikel bezüglich Scheidung/Trennung im net gefunden.
Er behandelt eher das wie es soweit kommen kann, und nicht wie man damit umgeht.
Ich denke es gibt soviele Trennungsgründe wie es Menschen gibt, und somit ist dieser Artikel nicht unbedingt bezeichnend- aber ich denke doch das er gut ist.
LG,
Mike
Sie erzählt ihre Geschichte:
I
Anderthalb Stunden tanzte sie in seiner Nähe. Sie tanzte so, wie sie immer tanzte, wenn sie selbstvergessen und ekstatisch aussehen wollte. Sie war aber nicht selbstvergessen, sondern behielt ihn im Blick. Das Kunststück war, ihn so zu beobachten, dass er nicht merkte, dass sie ihn beobachtete. Sein Hemd hing hinten aus der Hose, das fand sie lässig. Er tanzte nicht. Er stand bei seinen Freunden und lachte. Er schaute.
Sie hatte die rote Schachtel gesehen, in der Brusttasche seines Oberhemdes. Er sagte: Ja. Und dann begleitete er sie nach draußen. Sie wollte alles von ihm wissen, sofort. Aber sie schwieg, das war erprobte Taktik. Er fing an zu fragen.
Sie wusste: Den kann ich haben.
Sie war 33. Es war Zeit. Sie wollte jemanden aussuchen, mit dem es klappen kann. Keinen Loser, keinen Verrückten, einen Normalen halt, für das ganze Programm. Und jetzt, seine Zig. in ihrer Hand, wusste sie, ich hab hier einen richtig Tollen. Ingenieur, 35, Eltern Rechtsanwälte, zwei Schwestern, letzte Ferien Hawaii, mit einem Freund. Sie blieb lange mit ihm draußen in der Kälte, eine halbe Schachtel Gauloises lang. Dann tanzten sie zusammen. Er war kein guter Tänzer. Egal. Sie küssten sich. Er war kein guter Küsser. Auch egal. Sie gingen danach zu ihm.
Seine Wohnung, voll und kahl zugleich. Sie sah das Bett nicht, es war mit Zeitungen bedeckt und mit Kleidung von ungefähr einer Woche. Er fragte, ob sie Wasser will, aber er fand keins. Er entschuldigte sich nicht. Ein Mann, der nicht Entschuldigung sagt – er war genau das, was sie wollte.
II
Das Warten begann, wenn er gegangen war und die Wohnungstür ins Schloss fiel. Sie lief ans Fenster und sah ihm nach. Er ging so schön. Er war ihrer. Sie war glücklich. Am Abend würden sie sich wiedersehen. Würde er sie genauso vermissen wie sie ihn? Schnell griff sie das Telefon und wählte seine Nummer. Sie sah vom Fenster, wie er nach seinem Handy suchte, und dann hörte sie seine Stimme. Dieses Glück! Es konnte passieren, dass ihr Tränen kamen, wenn sie seine Stimme am Telefon hörte. Erst als er im Büro ankam, hörten sie auf zu reden. Sie legte sich auf das Bett, schloss die Augen und versuchte, diesen Moment zu genießen. Es war Liebe.
III
Die Wohnung hatte sich verändert – sie hatte die Wohnung verändert. Es gab jetzt einen Teppich, schöne Bettwäsche und einen Zeitungsständer, den sie einmal in der Woche leerte und immerzu wieder füllte. Die Zeitungen vermehrten sich auf wundersame Weise. Dabei war es sicher, dass nur eine Zeitung pro Tag geliefert wurde. Sie sammelte Zeitungen aus allen Ecken der drei Zimmer. Sie fand sie neben allen Sitzgelegenheiten und unter allen Möbeln, die Beine hatten. Dazwischen: Kleidungsstücke, Dokumente, leere Briefumschläge. Sie sortierte: Kleidung in den Wäschekorb, leere Umschläge in den Papiermüll, Dokumente auf den Stapel.
Sie war stolz auf sich. Sie würde aus ihm einen ordentlichen Menschen machen. Er würde sehen, wie schön es ist, wenn nichts herumlag. Und dann würde er dankbar sein. Und auch aufräumen. Sie konnte nur arbeiten, wenn alles schön war. Lag irgendwo eine Socke, fühlte sie sie im Nacken, ohne sie zu sehen. Sie musste aufstehen und sie forträumen. Erst dann klappte es mit der Konzentration.
Der einzige Ort in ihrer gemeinsamen Wohnung, auf dem sie Chaos zuließ, war sein Schreibtisch. Der Kontrast hatte etwas Pädagogisches, fand sie.
Bald würde er nach Hause kommen. Sie nahm ein leeres Blatt, kariertes Papier und schrieb mit dem Füllhalter: Was ich an ihm mag: Er ist groß. Er ist klug. Er hat ein schönes Lächeln. Ich höre ihm gern zu. Er ist höflich. Er ist sportlich. Er ist witzig. Er hat viele Freunde. Er hat einen interessanten Beruf. Er mag Kinder. Er liebt mich. Er sieht sehr gut aus. Das Wort sehr unterstrich sie. Es war noch Platz auf dem Papier. Nun übte sie ihre Unterschrift. Ihr Vorname und sein Nachname. Im Sommer würden sie heiraten.
Foto: ini neumann/Upperorange 1976 heirateten in Deutschland 510.318 Paare, 2006 nur noch 373.681
IV
Sie war erst einkaufen, dann shoppen. Endlich diese Tasche. Er sollte sie zuerst sehen. Vor den Kollegen war es ihr peinlich, fast ein Monatsgehalt für eine Tasche auszugeben. Die Wohnungstür war nicht abgeschlossen. Er war schon da. Sie wollte sofort zu ihm.
Ihr Blick fiel auf die Schuhe. Sie lagen mitten im Flur. Drum herum eine Pfütze. Sie stellte ihre Schuhe ins Schuhregal, der Schnee tropfte in die Plastikschale. Seine Schuhe ließ sie liegen. Das gute Adrenalin war weg, das schlechte Adrenalin kam, die Wut. Erst gestern hatten sie diskutiert. Über die gleichen Schuhe, die gleiche Pfütze, die gleiche Stelle im Flur. Gestern hatte sie die Schuhe aufgeräumt und ihn dann gefragt:
Wieso räumst du deine Schuhe nicht selbst weg?
Erwartest du etwa, dass ich das mache?
Du bist respektlos.
Und er:
Warum interessierst du dich für meine Schuhe?
Mich interessieren deine Schuhe auch nicht.
Es stört mich nicht, dass du deine Schuhe ins Regal stellst.
Und sie:
Es gehört sich, Schuhe aufzuräumen.
Es gehört sich nicht, Schuhe nicht aufzuräumen.
Und wieder er:
Wieso glaubst du, dass du recht hast?
Und wieder sie:
Weil es so ist.
Dann immer wieder von vorne alles, nur mit anderen Worten. Sie hatten geschrien. Als sie sich erschöpft gestritten hatten, gingen sie ins Bett. Versöhnungs-Sex. Danach hatte er versprochen, die Sache mit den Schuhen zu ändern. Beide waren zufrieden, als sie einschliefen.
Jetzt, einen Tag danach, erinnerte sie sich an das Versprechen. Sie würde seine Schuhe nicht wegräumen. Sie würde zu ihm gehen und sagen: Würdest du bitte deine Schuhe aus dem Flur räumen? Genauso hat es früher ihre Mutter gemacht, mit dieser Stimme, freundlich, aber kalt. Sie würde jetzt versuchen, weich zu klingen. Ich mag es nicht, wenn deine Stimme schrill wird, hatte er neulich gesagt. Sie wollte, dass er sie mag, und auch ihre Stimme sollte er mögen. Und vor allem sollte er seine Schuhe wegräumen.
Sie fand ihn im Wohnzimmer auf dem Sofa. Hinter seiner Zeitung. Ein glücklicher Junge, der mit nichts Schlimmem rechnete und seine Mutter freudig anlächelte. Sie war aber nicht seine Mutter, sondern seine Frau, die von der Arbeit nach Hause kam. Die neue Tasche war vergessen. Sein Hemd hing aus der Hose. Sie war enttäuscht.
V
Am Anfang war sie überrascht gewesen, dass sie es konnte, dass sie funktionierte wie ein ganz normales Säugetier. Sie misstraute dem Test. Doch der Frauenarzt bestätigte die Diagnose, und das Ultraschallgerät lieferte die Beweise, die ihr Körper vorenthielt. Ein schlagendes Herz in der Größe eines Reiskorns.
Jetzt, einen Monat vor der Entbindung, konnte sie sich nicht mehr gut bewegen. Das Kind machte sie glücklich. Sie war eine Göttin, die Leben schuf. Und der dazugehörende Gott war er.
Kam er abends nach Hause, wartete sie ihm entgegen, das Abendessen warm auf dem Tisch. Gestern Pellkartoffeln mit Kräuterquark, vorgestern ein Hühnchen in Orangensauce, ein bisschen trocken, aber gut.
Sie war jetzt seit drei Wochen zu Hause, Hausfrau und werdende Mutter, und außer warten hatte sie eigentlich nichts zu tun. Der Haushalt kostete sie morgens eine Stunde und abends, wenn er nach Hause kam, eine weitere. Sie verglich ihre Wohnung mit einem tropischen Regenwald. Sie räumte seine Zeitungen weg. Seine Schuhe, seine Briefe. Sie sorgte dafür, dass der Dschungel die Zivilisation nicht fraß. Sein Schreibtisch war das Epizentrum der Wohnung geblieben. Sie nahm es hin. Kein Streit um Nichtigkeiten mehr. Sie war nur noch schwanger und glücklich. Oft dachte sie: Schade, dass uns jetzt keiner fotografiert.
VI
Sie hatte jetzt zwei Babys, das Zeitungs-Baby und das echte. Hunger, Durst, Bauchweh, Albträume, Sehnsucht, Schnuller weg, Windeln voll, immerzu irgendetwas. Und wenn es nichts hatte, hatte sie Angst, dass es bald was haben würde. Dieses furchtbare, hysterische Schreien, zu dem Babys in der Lage sind. Der Schrei war so, dass er sie aus dem Tod erweckt hätte und aus dem Schlaf natürlich auch, und zwar sofort.
Jetzt wollte sie schlafen, und der Schrei weckte sie. Sie dachte: Was machte der da bloß und mit der war nicht das Baby gemeint, das weinte, sondern er, ihr Mann, der schon die ganze Nacht geschlafen hatte und der es jetzt nicht schaffte, den Kleinen zu beruhigen. Sie zog sich das Kissen über das Ohr. Doch unter dem Kissen horchte sie: Das Baby schrie und schrie. Sie würde nicht wieder einschlafen können. Hundemüde seit Monaten war sie. Und je länger das Schreien ging, desto wütender wurde sie. Schnuller reichen, wiegen, tragen, es war kein Hexenwerk, er könnte es schaffen. Wenn er wollte.
Aber nein. Zehn Minuten waren vergangen. Sie zog das Kissen vom Kopf, starrte kurz an die Decke, müde und wach zugleich, und ging ins Wohnzimmer. Er hatte sich das Baby auf die Schulter gelegt. Die linke Hand hielt es dort. Das Baby brüllte direkt in sein Ohr. Er starrte auf sein Blackberry in der rechten Hand, der Daumen drückte die Tasten des Geräts. Er schrieb eine E-Mail. Sie hatte Lust, ihn zu schlagen, ihn verantwortungslos zu nennen, gemein, schluckte es aber runter. Sie nahm ihm das Baby aus dem Arm und flüsterte: Komm zu Mama. Sie ging zurück ins Schlafzimmer, zog ihm etwas Frisches an, und als sie zurück kam ins Wohnzimmer, da war der Vater eingeschlafen, das BlackBerry in der Hand.
Foto: ini neumann/Upperorange Die durchschnittliche Ehedauer der im Jahr 2012 geschiedenen Ehen betrug 14 Jahre und 7 Monate
VII
Folgendes hasste sie an ihm:
Dass sein Hemd aus der Hose hing.
Sein BlackBerry.
Den Computer auf seinem Schoß.
Wie er den Kleinen hielt.
Dass er auf dem Sofa einschlief.
Dass er Tee trank.
Dass er nicht tanzen konnte.
Dass er nicht küssen konnte.
Dass er gern arbeiten ging.
Seine Mutter.
Seinen Vater.
Seine beiden Schwestern.
Sein Aftershave.
Seinen Dialekt.
Dass er nicht dicker wurde.
Dass er nachts durchschlief.
Dass er auch mittags schlafen konnte.
Dass er schnarchte.
Dass er den Wecker nicht hörte.
Dass er nicht mit seinem Sohn spielte.
Dass er mit seinem Sohn spielte, wenn sie sagte: Spiel doch mal mit deinem Sohn.
Dass er falsch mit seinem Sohn spielte.
Dass er sich nicht entschuldigen konnte, auch nicht, wenn sie weinte.
Seinen Schreibtisch.
Seine Schuhe im Flur.
Seine Zeitungen.
Seine Fußnägel.
Sie hatte dem Hass in letzter Zeit oft beim Kommen zugesehen. Zum Beispiel gestern. Sie kam in die Küche und sah seine Teetasse. Die gleiche Teetasse, die sie gestern geputzt hatte, wütend, weil die Teeränder genauso schwer abgingen wie vorgestern. Da stand die Tasse wieder. Auf der Spülmaschine. Die gleichen Teeränder. Sie sah die Tasse, und dann sah sie eine Weile nichts mehr. Da kam der Hass. Das Gute am Hassen ist, dass man es nebenbei tun kann. Man kann eine Tasse putzen und in die Spülmaschine packen und nebenbei weiterhassen.
Sie entschied sich zu schweigen. Er merkte es nicht. Nicht als er nach Hause kam. Nicht als er die Krawatte auszog. Nicht als er aß. Er sagte nichts. Und sie auch nicht. Ab und zu summte das BlackBerry. Dann kam kurz Leben in ihn, und er tippte zurück.
Es gibt nur ein Mittel gegen Hass, und das heißt: Tut mir leid, du hast so recht, bitte verzeih mir. Abends fragte er: Sag mal, ist was? Da hätte sie das Mittel einfordern können. Sie sagte: Nein, nichts. Dann sah sie ihn an, ließ ihre Augen schlitzklein werden. Sie legte ihren ganzen Hass in ihren Blick. Falls er sie ansehen würde, würde er versteinern. Er sah sie aber nicht an.
Sie beschloss den Vorfall für sich zu behalten und ihn beim nächsten Streit zu benutzen.
VIII
Sie hatte viel zu tun in der neuen Wohnung. 160 Quadratmeter können glücklich machen! Umgezogen sein in eine Traumwohnung war fast so schön wie Kinder kriegen.
Und beides, Kinder kriegen und Traumwohnung, glich sich auch, wenn die Patina kam. Ein halbes Jahr war sie unfassbar zufrieden. Die Wohnung kam ihr vor wie ein kleiner Lebenssinn. Der große Lebenssinn waren ihre Kinder, das eine und das, das bald kam. Aber wenn man drin war in der Wohnung, wenn alles schön war und gemütlich, wenn die Vorhänge hingen und die Teppiche lagen, dann verkam die Anfangsfreude zum Alltag.
Sie war jetzt ein halbes Jahr schwanger. Die erste Hälfte davon war schön gewesen. Dann merkte sie, dass sie sich mehr freute als er. Er kam nicht früh nach Hause. Er streichelte ihren Bauch nur ganz selten, eigentlich nur, wenn sie ihn darum bat. Nie so wie damals.
Das zweite Kind war ihr Projektkind. Es sollte sie glücklich machen, sie allein und vor allem sie beide. Es sollte Sinn in ihr Leben bringen. Ein Kind ist schön und sinnvoll, fand sie, mehr Kinder sind mehr Sinn. Je mehr Kinder, desto klarer war auch, dass sie beide eine unzerstörbare Familie waren. Mutter, Vater, zwei Kinder. Das war geplant und sah gewollt aus. Nicht wie zwei Erwachsene und ein Betriebsunfall.
Es war eine große Ruhe in der neuen Wohnung. Das erste Kind schlief durch. Es ging auf die Toilette und in den Kindergarten. Es war in der musikalischen Früherziehung, beim Vorschulschwimmen und beim Kinderturnen. Wenn es sich wehtat, wenn es Angst hatte oder schlechte Laune, kam es zu ihr und wollte Trost oder strenge Worte. Es kam nur zu ihr. Sie hatte die Liebe des Kindes verdient. Es war nicht gern auf dem Arm seines Vaters, und sie fand, dass er das auch verdient hatte. Sie gab ihm sein Kind auf den Arm, wann immer eine Gelegenheit war. Sie stellte sich dann dicht neben ihn, damit der Kleine es nicht sofort merkte und seine Arme ausstreckte, zu ihr. Sie wusste, dass ihn das verletzte. Es war ihr auch peinlich vor Freunden und Fremden. Ein Kind, das nicht zum Vater will – so sieht keine glückliche Familie aus.
Sie wollte glücklich sein. Ob er glücklich war, wusste sie nicht, und sie mochte ihn auch nicht fragen: Bist du glücklich? Sie hatte Angst vor seiner Antwort. Er könnte Nein sagen. Das hieße, das Zweites-Kind-Projekt, die Wohnung, das korrekte und geplante Familienglück war eine Lüge. Aber wahrscheinlich würde er Ja sagen, was ihm weniger schwerfallen würde. Aber das könnte gelogen sein. Sie würde es nicht wissen. Darum fragte sie nicht. Ein Leben wie im Katalog. Nur dass etwas nicht stimmte.
IX
Sie hatte sich ein Buch gekauft. Wie verführe ich meinen Mann?. Was Amerikanisches. Viel Technik darin, Technik des originellen Beischlafs. Sie las das Buch an einem Nachmittag, weil sie wusste, dass S. ihre Ehe retten würde. Sie war nicht gern die Verliererin. Er hatte die andere Frau. Sie hatte ein Geheimnis: das Geheimnis, dass sie sein Geheimnis kannte. Sie hatte auch die besseren Karten. Die Kinder, die Wohnung, das Konto.
Sie fand die SMS, ohne danach gesucht zu haben. Bei ihrem Handy war der Akku leer, darum nahm sie seins, und diese SMS war offen. Er hatte nicht mal dran gedacht, sie zu verstecken. Da wusste sie, dass er an solche Nachrichten gewöhnt war. Sie verführte ihn am selben Abend, ohne etwas zu erklären. Er war verblüfft, überwältigt. Er genoss es. Sie hatte gewonnen. Das war vor vier Wochen gewesen. Das Merkwürdige war: Seit sie wieder miteinander schliefen, war es besser geworden. Mit dem S. kam auch die Nähe wieder. Die Lehre, die sie daraus zog, lautete: Teile deinen Körper und frage nicht.
Der Problem: Wenn sie ehrlich war, war es ihr egal. Sie spürte irgendwie kaum etwas. Wenig Gefühl, viele Handgriffe. Und noch mehr Strategie. Sie sah sich zu dabei und dachte: Ich geb dir, was du brauchst. Ich krieg dich zurück.
Aber was wollte sie eigentlich mit ihm. Das wusste sie nicht.
X
Ins Büro gehen war schön. Erwachsene Menschen, erwachsene Gespräche. Sie schminkte sich wieder. Sie hatte die Arbeit vermisst. Jetzt merkte sie es. Er lachte über ihr Gehalt, und sie hasste ihn dafür. Es ging nicht um Geld, es ging auch nicht um Selbstständigkeit. Sie hatte ihm das mit der Selbstständigkeit nur gesagt, weil ihr im Moment keine bessere Begründung eingefallen war. Jetzt fiel sie ihr ein: Es ging um Anerkennung. Sieben Jahre zu Hause, oder waren es acht? Und niemals hatte er gesagt: Es ist gut, was du tust. Am Ende mochte sie sich selbst nicht mehr.
Sie hatte sich angewöhnt, mit den Kindern schlafen zu gehen. Nicht weil sie müde war, sondern weil sie ihm nichts von der Arbeit erzählen wollte. Er sollte nicht wissen, wie schön es dort war.
XI
Sie schrieb auf ein Blatt kariertes Papier:
Zweimal Höchstsatz Düsseldorfer Tabelle ca. 1000
ca. 1000 Unterhalt für mich
ca. 700 Kindergeld
ca. 1900 mein eigenes Einkommen
Das reichte. Andere lebten von Hartz IV. Die Ersparnisse würden sie teilen. Die kamen dann noch obendrauf. Sie kannte die Konten, da konnte nichts schiefgehen.
Ihre Mutter hatte gefragt: Hast du kein schlechtes Gewissen? Sie hatte nachgedacht. Nein, hab ich nicht. Ihre Mutter weinte; sie war die Einzige, die weinte. Sie selbst war, ja, was war sie?
Sie dachte eine Weile nach, dann fiel es ihr ein: erleichtert.
Gib ihm doch noch eine Chance, bat die Mutter. Sie sagte: Mal sehen. Und jetzt stellte sie sich vor, wie sie wäre, diese zweite Chance. Sie fühlte sich an wie Ersticken.
Musste es ein Elektriker sein?, fragte die Mutter. Ja, sagte sie. Sie drehte das karierte Blatt um. Auf der Rückseite war genug Platz für eine Tabelle.
Linke Spalte: Was ich an ihm mag, und mit ihm war der Elektriker gemeint. Sie schrieb in einem Schwung: Er hört mir zu. Er hat Zeit für mich. Er nimmt mich ernst. Er nimmt meine Sorgen ernst. Er nimmt meine Arbeit ernst. Er bewundert mich. Er mag meine Kinder. Er mag meine Haare. Er mag meine Figur. Er sieht, wenn ich traurig bin. Er ist ordentlich. Er liebt mich. Er küsst gut. Er tanzt gut. Er trägt keine Oberhemden. Rechte Spalte: Was ich an ihm mag, und mit ihm war er gemeint. Sie blieb leer. Das war nicht fair, das wusste sie. Sie musste nun nicht mehr fair sein. Sie würde auch keine neue Unterschrift mehr üben. Vielleicht würden sie zusammenziehen, später. Dann könnten sie die Kosten teilen.
XII
Ein Anwaltsbrief: Der Antragsgegner unterhielt ab dem Jahr 2010 eine außereheliche Beziehung, vermutlich mit seiner Sekretärin. Das kann durch eidesstattliche Versicherung der Antragstellerin (Gedächtnisprotokoll) oder durch eidliche Einvernahme der noch zu benennenden Sekretärin glaubhaft gemacht werden. Die SMS im Handy des Antragsgegners vom 17. April 2010 hatte folgenden Inhalt: ,Danke für das traumhafte Wochenende'.
Die Antragstellerin hat im Interesse des Erhalts der Ehe und unter Wahrung des Wohls der beiden gemeinsamen Kinder darauf verzichtet, den Antragsgegner mit der Entdeckung dieser Beziehung zu konfrontieren. Das Vertrauensverhältnis wurde indes durch diesen Beweis ehelicher Untreue massiv und letztlich unüberbrückbar gestört. Es ist darüber hinaus davon auszugehen, dass der Antragsgegner intime Beziehungen mit wechselnden Weisungsbefugten unterhielt. Dies weist auf eine charakterliche Disposition hin, die einen regelmäßigen Aufenthalt der beiden minderjährigen Kinder der Antragstellerin beim Antragsgegner als nicht dem Kindeswohl förderlich zu bezeichnen sind.
Er erzählt seine Geschichte
I
Tanzen war eine Sache, die er nicht verstand. Er sah schon, dass Tanzen gut aussehen konnte. Vor allem bei den Frauen. Es gab welche, die es verstanden, Muskeln, Knochen, Sehnen so zu koordinieren, dass bei ihm was ansprang. Da sah man gern zu, und man sah es den guten Tänzern auch an, dass ihnen die Sache Spaß machte. Man nannte es Körperbeherrschung. Aber rein statisch war Tanzen ein Wahnsinn. Er rechnete gut. Körpermechanik war unberechenbar.
Einen physikalischen Körper konnte man erklären. Den menschlichen Körper nicht. 656 Muskeln und 206 Knochen und 400 Sehnen gab es. Das hatte er irgendwo gelesen. Dagegen ein Auto: Es bestand aus ungefähr 10.000 Teilen – es bewegte sich mit einfacher Kolbenmechanik. Hin und her. Das war der Antrieb. Dazu ein sauberes Drehmoment und Kraftübertragung ohne Reibungsverlust. Ölen, sauber fräsen, präzise zünden. Viel mehr war es nicht bei einem Auto. Der Körper war anders. Primitiv und trotzdem komplex. Runde Bewegungen, eckige Bewegungen, weiche Bewegungen, dreidimensionale Bewegungen und vor allem: nie zweimal die gleiche Bewegung. Das Ganze gesteuert von einer Zentrale ohne Schalter und ohne Display. Die menschliche Maschine war ein Irrsinn.
Er tanzte nicht. Er war mit ein paar Freunden hergekommen. Sie tanzten auch nicht. Sie redeten und lachten. Worüber, war nicht immer zu verstehen, 120 Dezibel, schätzte er. Irgendwer erzählte einen Witz, begann zu lachen, dann lachten alle, und er lachte immer gern mit.
Dann sah er diese Dunkelhaarige. Sie war ihm vorhin schon aufgefallen. Sie bewegte sich ganz durchgedreht, hatte die Augen zu, und das Tolle: Sie fiel nicht hin. Er hielt es für möglich, dass sie mit der Tanzerei ihn meinte. Aber er war nicht sicher. Er sah noch mal hin: gut gebaut. Von vorn gut und von hinten auch. Er war dann sehr froh, dass er Zig. hatte. Ohne die Zig. – da wäre man nie in Kontakt gekommen, denn es rauchte fast niemand mehr. Wenn man eine wollte, musste man tanzen gehen. Mehr als ein bisschen wippen holte er aus der Statik seines Körpers nicht heraus. Diese rauchte. Er nahm sie dann mit zu sich.
II
Er war ziemlich erfahren mit Frauen. Frauen waren das Schönste für ihn. Schöner als Geld, Autos, Freunde. Er mochte das alles, aber Frauen waren wichtiger, ohne sie ging es nicht. Allerdings hatte er immer gedacht, Liebe sei das Gleiche wie Trieb, nur ein schöneres Wort. Jetzt merkte er etwas: Er dachte an sie, einfach so. Er saß im Zug oder im Büro oder im Taxi und dachte an ihr Gesicht und daran, dass er ihre Haare mochte und ihre Zähne, ihre Wangen, ihren Mund. Er mochte es, mit ihr zu reden, er mochte es aber auch, dass sie danach nicht reden wollte, sondern einschlief oder sagte: Wollen wir fernsehen? Er dachte immerzu an sie, auch wenn er sicher war, dass es kein Trieb war. Es war Liebe.
III
Er trug ihre Kartons. Eigentlich war das für ihn Strafarbeit. Er tat es ihr zuliebe. Wie alle Frauen, die er so gekannt hatte, dachte sie, ein Ingenieur sei so eine Art studierter Handwerker. Sie hatte beschlossen, zu ihm zu ziehen. Und er dachte: Ja. Er wollte, dass sie ihn mag. Er mochte sie.
Ein kleiner Transporter voll mit Frauenkram. Man musste ja nicht sofort heiraten. Erst mal sehen, wie es so läuft.
Und jetzt fragte er sich, was sie da oben machte, während er ihre Sachen in seine Wohnung schleppte. Er fand sie im Schlafzimmer. Da lagen vorhin noch sein Kissen und seine Decke. Und die Zeitung, die er heute morgen im Bett gelesen hatte. Er hatte nicht im Bett geraucht, das hatte er sich mit der Letzten abgewöhnt, die Nichtraucherin war. Es hatte auch sein Gutes. Der Körper war so ein komplexes Ding. Da konnte man nicht einfach die Lunge austauschen wie einen Achsschenkel. Das war ja das Problem der Biologie.
Jetzt erkannte er sein Bett nicht wieder. Sie hatte ihr Kissen neben seins und ihre Decke neben seine gelegt. Sie hatte Bezüge draufgetan, die er nicht kannte, dunkelrot. Okay, warum nicht? Er hatte aus verschiedenen Gründen nur weiße Bettwäsche. 1. Weil Weiß das spärliche Nachtlicht reflektierte und man nachts den Weg aufs Klo leichter fand, 2. Weil er fand, im Bett gebe es keine Mode, Weiß war immer richtig, 3. Weil sie von seiner Mutter war.
Das Zimmer war nicht mehr das gleiche wie heute morgen. Sie hatte Stapel gemacht. Die Zeitung von heute war weg. Eine uralte lag auf dem Stapel mit den Zeitungen oben. Er würde den Finanzteil in dem Haufen suchen müssen. Nachher würde er sich mit ihr an den Küchentisch setzten, mit einem Darjeeling und dem Finanzteil von heute.
Sie fragte: Findest du es schön? Und natürlich sagte er Ja. Eigentlich war es gelogen. In Wahrheit war es ihm egal. Nur von seinem Schreibtisch sollte sie die Finger lassen. Da durfte sie sein System auf keinen Fall durcheinanderbringen, und das sah sie ein.
Das letzte Mal, dass er eine Frau so gemocht hatte, war als Kind seine Mutter gewesen. Es gefiel ihm, wie sie alles erledigte. Das war handfest. Belastbar. Hier einen Vorhang, dort ein Bild. Neue Möbel, schade, aber bitte. Die Kissen auf dem Sofa fand er sogar richtig gut für den Zwischendurchschlaf im Wohnzimmer, wenn der Tag im Büro heftig gewesen war.
Die Frauen vor ihr hatte er meist nur beim Sitzen gesehen. Sie wollten immerzu raus, um weiterzusitzen in Restaurants, im Kino. Anstrengend war das nach einem Zwölf-Stunden-Tag. Sie hingegen war auch gern hier, zu Hause. Er mochte es, wenn er von der Arbeit kam und sie schon da war. Sie kochte anders als seine Mutter, aber auch gut. Sie hatte die Organisation der Wohnung übernommen. Das passte ins System, denn er brauchte seine Kraft für die Arbeit. Es lief gut gerade. Letzten Monat wieder eine Gehaltserhöhung. Jetzt verdiente er mehr als sein Vater am Ende seiner Berufslaufbahn.
Foto: ini neumann/Upperorange Häufigste Streitpunkte bei einer Scheidung: Unterhalt sowie das Sorgerecht für die Kinder
IV
Er war um fünf Uhr aufgestanden, um den ersten Flug nach München zu nehmen. Stau auf der Autobahn. Fast hätte er den Flug verpasst. Er war erschöpft, als er durch den Einstiegsschalter gerannt kam – als Letzter. Im Flugzeug holte er noch mal die Pläne für die neue Anlage raus: Gleich nach der Landung war die erste Telefonkonferenz anberaumt – im Taxi. Dann das Meeting selbst, immer wieder das Gleiche erklären – keine Pause. Immerzu neue Probleme, für alles war er zuständig. Trotzdem wollte er auf keinen Fall den 18-Uhr-Flug verpassen. Schneetreiben, Stau, Verspätung. Er schaffte das Flugzeug, aber wieder ziemlich knapp. Und dann war er endlich zu Hause. Er freute sich, sie wiederzusehen, so, als wäre er einen Monat lang von ihr weg gewesen. Sie war noch nicht da, und er legte sich mit der Zeitung von heute aufs Sofa und wartete auf sie.
Jetzt hörte er ihren Schlüssel im Schloss. Es war schön, verheiratet zu sein. Er wusste, dass er nicht der große Romantiker war. Aber in diesem Moment war ihm sentimental zumute.
Sie würde gleich zu ihm kommen, Begrüßungskuss, Wie geht's, Schatz, wie war dein Tag? Er könnte erzählen. Sie könnte erzählen. Vielleicht was kochen. Zusammen essen, schlafen. Ausruhen.
Aber sie fragte nicht, wie es ihm ging. Sie fragte: Würdest du bitte deine Schuhe aus dem Flur räumen? Er war enttäuscht.
V
Dass sie jetzt dick wurde, war natürlich gewöhnungsbedürftig. Aber seine Mutter war nach drei Kindern auch wieder schlank geworden. Ein Babybauch war nicht weich. Das fand er faszinierend. Ihr Bauch war fest wie ein Fußball, und drinnen war sein Kind. Schwer vorstellbar fand er das. Diese Biegsamkeit des embryonalen Skeletts. Er war stolz auf ihre Leistung und auch auf seinen Anteil daran. Ein Mann muss ein Haus bauen, einen Baum pflanzen, ein Kind zeugen. Baum pflanzen, naja. Das war Rhetorik der Vorindustrialisierung. Maschinen bauen war das Bäumepflanzen von heute.
Und dann, dass da ein Mensch wuchs. Nicht allein durch Vergrößerung und Vermehrung von Zellen, sondern durch programmierte Erschaffung und Veränderung von multifunktionalen Zellen. Ein bisschen wie Enterprise, wo Materie durch das Hin-und-her-Beamen quasi kreiert wurde. Er hatte gelesen, dass die menschliche DNA, wenn man sie aneinanderreiht, 350.000 Kilometer lang ist – fast so lang wie die Entfernung der Erde zum Mond. Klar, dass das ein komplexer Code war.
Auf ihr Einkommen würden sie nun verzichten müssen. Es war nicht schlimm, viel war es ja nicht. Sie wollte zu Hause bleiben, besser für Kinder als Fremdbetreuung. Er war damit einverstanden.
Er rief seinen Freund an, der war Makler. Vier Zimmer, gern auch fünf. Dann müsste man in drei oder vier Jahren nicht schon wieder umziehen, wenn das zweite Kind kam. Falls kein zweites Kind käme, auch gut. Die Immobilienpreise stiegen gerade, eine Eigentumswohnung wäre ohnehin eine sinnvolle Investition.
VI
Eigentlich wollte er sonntags nicht arbeiten. Er wollte die Sonntage mit der Familie verbringen. Er wollte sein Baby kennenlernen, und er wollte sie entlasten. Sonntags sollte sie ausschlafen können, das war der Deal. Er übernahm den Kleinen. Windeln wechseln, Schnuller reichen, Flasche geben, ein bisschen tragen, ein bisschen singen – es war kein Hexenwerk, er konnte es auch. Es war ja nicht mit anzusehen, wie sie verkam unter der Mutterschaft. Sie schaffte es kaum noch in die Dusche. Am Sonntag sollte sie sich erholen. Darum packte er alle Termine in die Woche, damit die Wochenenden frei blieben.
Okay, heute ging es nicht anders. Sie saßen schon wieder zusammen, und es ging um Milliarden. Er hatte gesagt, im Notfall, ja, sei er erreichbar. Und jetzt war Notfall. Die E-Mails trafen im Minutentakt ein. Er legte das Baby in die Wiege, es sollte schlafen, dann konnte er sich schnell einschalten in die Verhandlungen. Wenn er es nicht tat, war die Arbeit des letzten halben Jahres ruiniert, zerstört. Es ging um alles. Das Baby erbrach sich in der Wiege. Ihm fiel ein, dass es noch kein Bäuerchen gemacht hatte. Er nahm es aus seinem Bett und legte es sich auf die Schulter. So machte sie es auch immer, damit die Luft aus dem Magen kam, Luft war leichter als Mageninhalt, sie entwich also nach oben. Wieder eine Mail – diesmal vom Projektleiter des Partnerunternehmens. Er sah sofort: Der Mann hatte nichts verstanden. Es ging alles schief ohne ihn. Das Baby hörte nicht auf zu schreien. Er konnte kündigen und sich einen kleinen Job im Mittelstand suchen. Halb so viel Arbeit – ein Viertel so viel Geld. Er wollte das nicht. Sie wollte das auch nicht. Er musste reagieren. Sofort.
VII
Wasser floss immer bergab. Elektrizität nahm immer den Weg des geringsten Widerstands. Das waren Naturgesetze. Auch beim Menschen hatte er Naturgesetze beobachtet. Menschen gingen immer Schwierigkeiten aus dem Weg. Warum sollte er nach Hause gehen, wenn es im Büro leichter war? Am Schreibtisch entging er ihrer Nerverei, erhöhte die Zahl der Billable Hours, schaffte was weg vom Schreibtisch und kriegte Tee und Zungenküsse auf Knopfdruck. Zu Hause kriegte er beides nicht, nicht den Tee und nicht die Zungenküsse. Holte er es sich also hier, war allen gedient und niemandem geschadet. Warum sollte er seine Frau um etwas bitten, was sie nicht gern gab? Warum sollte er seiner Sekretärin etwas ausschlagen, was sie ihm unbedingt schenken wollte?
Überdruck jeder Art war auf die Dauer schlecht für den menschlichen Motor. Ob er nun zwölf Stunden im Büro war, unter Spannung, oder 14 Stunden, entspannt, es kam nicht drauf an.
Sie hatte es nicht leicht, das wusste und respektierte er. Er würde sich auch langweilen, wenn er den ganzen Tag zu Hause bleiben müsste. Dann würde er sich vielleicht auch über Teetassen aufregen oder über Zeitungen oder sonst was, das sie Ordnung nannte. Er verdiente das Geld. Und sie hatte schlicht zu viel Zeit.
Nur um die Zeit mit dem Baby beneidete er sie. Er sah es gern, was sie mit ihm machte, und fragte sich, ob er es könnte, wenn er müsste. Nachts aufstehen, wenn es etwas hatte, das ging an die Substanz. Er verstand sie – einerseits. Er mochte es nicht, wenn sie rumschrie – andererseits.
Sein Vater hatte ihn als Zwölfjährigen beiseitegenommen, weil seine Mutter stundenlang im Schlafzimmer geweint hatte, und ihm Folgendes gesagt: Junge, mit den Frauen ist es so: Sie haben immer irgendwas. Neuerdings sprach ja alle Welt über Hormone und darüber, dass sie die eigentliche Zentrale des Menschen waren. Okay, das war wieder so wachsweiche Biologe. Aber eine bessere Erklärung für die Unerklärlichkeit des Verhaltens seiner Frau fand er nicht.
IIX
Er fand es gut, dass sie wieder schwanger war. Die Wohnung war für sie drei viel zu groß – sie war auf Zuwachs kalkuliert. Es kostete ein Vermögen, ihr Drang zum Gestalten und Dekorieren. Er fragte sich, woher sie die Lust dazu nahm, immerzu neue Ideen für die Farbe irgendwelcher Oberflächen zu produzieren. Abends zeigte sie ihm, was sie gekauft hatte. Lampen oder Sofas oder Betten. Er sah es anders: Eine Lampe ist ein Funktionsträger, genau wie ein Bett oder ein Sofa. Ein Sofa, das noch voll funktionstüchtig war, musste nicht weggeworfen und gegen ein neues eingetauscht werden. Es war sinnlos. Es kostete Geld. Ihm fiel auch auf, dass sie Geld leichter und sorgloser ausgab, seit sie selbst nicht mehr arbeitete, und es störte ihn, wenn er ehrlich war. Trotzdem tat er ihr den Gefallen, sich über die vielen neuen Einrichtungsgegenstände zu freuen. Sie war schwanger, es war sein Kind, seine Familie.
Eigentlich war ihre Schwangerschaft eher ein Zufall als ein Produkt der Lust aufeinander, wie es bei ihrem ersten Kind gewesen war. So etwas wie Lust auf S. schien sie kaum noch zu haben. Es gab höchstens noch eine gelegentliche Bereitschaft, seiner Lust auf S. nachzugeben. Und seit sie wieder schwanger war, nicht einmal das. Was an Zärtlichkeit in ihr war, strömte fort von ihm, hin zu den Kindern. Sogar das ungeborene Kind, dessen Rezeptoren für Berührungen noch gar nicht reif waren, bekam mehr Zuwendung von ihren Händen. Wasser floss bergab. Er war die Bergspitze, die Kinder der See am Fuß des Berges. Es war wohl nicht zu ändern.
Insofern hatte er eine gute Rechtfertigung: Frauen, die keinen S. wollten, hatten Männer, die S. anderswo holten.
Foto: ini neumann/Upperorange Circa 60 Prozent der Scheidungsanträge werden von Frauen gestellt
IX
Sie stellte keine Fragen und keine Ansprüche, nicht an ihn, nicht an seine Schuhe, nicht an seine Teetasse. Alles war einfach mit ihr. Alles war möglich. Reden, S., Lachen. Sie fragte auch nie: Liebst du mich?, und er war froh, dass sie nicht fragte, denn er hätte lügen oder Ja sagen müssen. Er freute sich auf jedes Treffen, auf jeden Abend mit ihr. Er versuchte, nicht darüber nachzudenken, was er für sie empfand. Denn was für ihn zählte, waren nicht Gefühle, sondern Fakten. Fakt war die Familie, und seine Frau war Teil seiner Familie. Sie konnten zusammen reisen, und es fiel niemandem auf, dass sie mehr waren als ein Chefingenieur und seine Assistentin, auch in der Firma nicht. Sie checkten im gleichen Hotel ein, nahmen zwei Zimmer und schliefen in einem. Er dachte: Ich kann mit ihr alles nur richtig machen. Und zu Hause alles nur falsch. Und trotzdem ließ er jede Verabredung mit ihr platzen, wenn zu Hause etwas war.
Er dachte nie an Trennung.
Auch nicht, wenn zu Hause schlechte Stimmung war, schreiende Kinder, schweigende Ehefrau. Er hatte Verantwortung.
Jetzt kam er nach Hause. Es war spät, und er wollte schlafen. Da kam sie plötzlich. Er dachte: Ist etwas Schlimmes passiert? Aber es war nichts. Legte sich zu ihm ins Bett. Er dachte kurz nach, versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal S. von ihm wollte. Es fiel ihm nicht ein.
Das Gehirn hatte einen Gedächtnisspeicher von ungefähr 1,4 Petabytes. Das hatte er irgendwo gelesen. Aber anders als die Mikroelektronik konnte das menschliche Gehirn vergessen und verdrängen.
X
Das Nachhausekommen war jetzt anders – es gefiel ihm nicht. Die Wohnung war wie leer. Die Kinder schliefen. Und sie schlief auch. Es war 21 Uhr. Er fühlte sich wie ein Fisch, und jemand hatte das Wasser aus dem Aquarium gelassen. Warum sie wieder zu arbeiten begonnen hatte, verstand er nicht, und auch noch Vollzeit. Das bisschen Geld, es war lächerlich. Ich will selbstständig sein, hatte sie gesagt, und er hatte lachen müssen. Ihre Selbstständigkeit sah so aus, dass sie von ihrem Sachbearbeiterinnenlohn nicht mal ihren Friseur bezahlen konnte, Selbstständig war sie nur dank Zugriff auf das Konto ihres Ehemanns. Wenn es nach ihm ging, würde sie zu Hause bleiben. Als er das vorschlug, drohte sie mit Scheidung.
Immerhin waren Kinderbetreuungskosten steuerlich absetzbar. Was ihn wunderte: Seit sie selbst Geld verdiente, ging sie kaum noch shoppen. Klar, dachte er. Wer arbeitet, hat zwar Geld, aber wenig Zeit und noch weniger Kraft, es auszugeben.
XI
Keinen Cent würde sie kriegen. Nichts. Er würde um das Sorgerecht kämpfen, sie würde ihre Kinder nie wiedersehen. Und die Wohnung – die war sowieso seine. Er würde ihre Konten sperren lassen, so wie sie es immer im Fernsehen machten. Er würde ihren Chef informieren, ihre Mutter und alle ihre Freundinnen. Alle sollten wissen, was sie für eine war. Und sie selbst sollte es spüren, am eigenen Körper, eine Aussätzige, Isolierte. In Arabien würde sie gesteinigt werden. Schade, dass sie nicht in Arabien lebten.
Wie dumm er gewesen war, Hochzeit ohne Ehevertrag. Peinlich das alles. Der totale Gesichtsverlust.
Andererseits, man lebte ja nicht in der Steinzeit. Und ihre Ehe, sachlich betrachtet, das war doch nichts mehr gewesen, eine ziemliche Weile schon. Eigentlich mutig, dass sie einfach alles aufgab. Das hatte er ihr nicht zugetraut. Nein, er hatte ihr nicht zugetraut, einfach zu gehen. Er selbst hätte das nicht getan. Nicht gewollt oder nicht gewagt? Er war sich plötzlich nicht mehr sicher.
XII
Ein Anwaltsbrief:
Die Antragstellerin hat ihren Unterhaltsanspruch nach § 1579 Zif. 6 BGB verwirkt, weil der Unterhaltsberechtigten ein schwerwiegendes eindeutig bei ihr liegendes Fehlverhalten zur Last fällt. Sie ist, ohne dass der Antragsgegner dazu Anlass gegeben hätte, aus der intakten Ehe ausgebrochen und hat sich einem anderen Mann in der Weise zugewandt, dass die Beziehung den Antragsgegner in seinem sozialen und beruflichen Umfeld in erheblicher Weise verächtlich zu machen geeignet war. Damit wäre die Inanspruchnahme des Verpflichteten nach der Rechtsprechung des BGH grob unbillig. De facto lag eine eheersetzende Partnerschaft vor. Dies kann unter Beweis gestellt werden durch die Zeugen X, Y und Z. Ggf. ist der neue Partner der Antragstellerin als Zeuge einzuvernehmen.
Aus der Scheidungsvereinbarung von Annette und Michael nach Mediation:
Hausrat: Über die Aufteilung der beweglichen Vermögensgegenstände (Hausrat) haben sich die Vertragsparteien geeinigt. Das Fahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen x. verbleibt im Eigentum von Annette X.
Zugewinn: Die gemeinsame Eigentumswohnung in der x. Straße geht in das Alleineigentum von Annette X über. Michael X. trägt diese Entscheidung mit, obwohl er damit mehr auf Annette X überträgt, als er nach der Berechnung des Zugewinns zu übertragen verpflichtet gewesen wäre. Daher verzichtet er im Interesse der Kinder, die ihren gewohnten Lebensmittelpunkt nicht verlieren sollen, auf die ihm zustehende Auszahlung von x. Euro, die ihm bei der Berechnung des Zugewinns zugestanden hätten.
Sorge- und Umgangsrecht: Annette und Michael X. üben das Sorgerecht gemeinsam aus. Der regelmäßige Aufenthalt der Kinder ist bei Annette X. Michael X. bekommt ein regelmäßiges Umgangsrecht an jedem zweiten Wochenende von Freitag nach der Schule bis Sonntagabend, 18 Uhr. Die Parteien verpflichten sich, im Interesse der gemeinsamen Kinder, zu einem einvernehmlichen Umgang miteinander.
01.10.2013 17:10 •
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