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Transgenerationale Weitergabe von Traumata

J
Zitat von LebedeinLeben:
@justawoman ich finde es sehr interessant was du beschreibst, insbesondere dein Bemühen mit ihnen auf Augenhöhe sein zu wollen. Das macht für mich ...

Naja. Es ist mehr oder weniger eine Lebensaufgabe für mich, damit fertig zu werden. Mein Vater ist jetzt schon lange tot und dadurch bin ich nicht mehr so oft mit dem Thema konfrontiert, das macht es leichter. Seine Memoiren habe ich bis heute nicht komplett gelesen (ich habe ihn als Jugendliche darum gebeten, seine Geschichte aufzuschreiben, in dem naiven Glauben, das würde ihm helfen).
Es war und ist immer noch schwierig für mich, einen gesunden Umgang mit meinen eigenen Emotionen zu finden. Ich habe mich als Jugendliche nicht getraut, meinen Eltern von meinen Panikattacken zu erzählen, wie hätten sie das verstehen sollen? Und sie haben auch nicht bemerkt, wie schlecht es mir ging, sie waren schlichtweg mit sich selbst beschäftigt. Ich messe mein eigenes Leid immer am maximalen Leid meines Vaters und lasse nicht gelten, dass ich es auch schwer hatte. Als ich das erste Mal in einer Klinik war, kam bald der Running Gag auf Frau X bekommt 10 DM aus der Kaffeekasse, wenn sie sagt, wie es ihr geht.
Ich mache jetzt, mit fast 50, zum ersten Mal in meinem Leben eine Traumatherapie und auch das hat sich eher so ergeben, weil die Therapeutin zufällig auf Traumata spezialisiert ist. Ich habe mich erst ziemlich dagegen gewehrt, muss jetzt aber doch anerkennen, dass es mir hilft. Meine ständige Unruhe und dieses Gefühl des Getriebenseins sind viel besser geworden.

22.03.2025 10:38 • x 8 #31


Vienne
Bei mir ist es mehr die Großelterngeneration...ich habe beides in der Familie...Verfolgte und Mitläufer.

Meine Großmutter hatte sicher ein Trauma davongetragen. Sie war in erster Ehe mit einem Juden verheiratet, das war die große Liebe ihres Lebens.
Das war natürlich Grund genug für das Regime damals, sie zu schikanieren. Sie wurde jeden Tag auf die Kommandantur in ihrer Heimatstadt gerufen... monatelang...jeden Tag die gleiche Frage Wann lässt dich endlich von dem Sau Juden scheiden? Als das nicht fruchtete, erhielt sie einen Bann...sie durfte ihre Heimatstadt nicht mehr betreten, weil sie sich nicht scheiden lassen wollte.

Aber als Christin war sie auch der jüdischen Verwandtschaft ein Dorn im Auge. Nicht wirklich akzeptiert. Sie versteckte später unter Lebensgefahr monatelang Schwiegermutter und Schwägerin, half ihnen, in die USA zu fliehen. Dennoch kam niemals ein Dankeschön...hat sicherlich auch damit zu tun, dass meine Großmutter dann meinen Großvater kennenlernte. Selbst, als sie schwanger war mit meiner Mutter, sollte sie noch an die russische Front als Lazarett Helferin geschickt werden. Der Druck war sehr groß...Dank meines Großvaters überlebte sie. In meiner Kindheit erlebte ich oft, dass sie noch Alpträume hatte der Kriegserlebnisse wegen.

Meine Großmutter hatte Zeit ihres Lebens immer ihren Pass bei sich... allzeit bereit zu fliehen.
Insofern hat es sich auf mein Verhalten übertragen, dass ich tatsächlich immer meinen Pass bei mir habe in meiner Handtasche, das hat sie mir eingeschärft. Kein Trauma, aber obwohl ich nie einen Krieg erleben musste, hat sich das irgendwie gehalten.

22.03.2025 10:48 • x 10 #32


A


Transgenerationale Weitergabe von Traumata

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J
Zitat von Vienne:
Bei mir ist es mehr die Großelterngeneration...ich habe beides in der Familie...Verfolgte und Mitläufer. Meine Großmutter hatte sicher ein Trauma ...

Das war sicher sehr schwer für deine Großmutter, insbesondere von beiden Seiten geschmäht zu werden. Puh. Es ist unfassbar, was unsere Eltern und Großeltern mitgemacht haben. Es macht mich traurig, dass in der Ukraine jetzt wieder eine Generation heranwächst, die diese Erlebnisse mit sich tragen muss.

Ich trage nur die Geschichte meines Vaters mit mir herum, weil ein Großteil seiner Familie ermordet wurde, insofern habe ich meine Großeltern nie kennengelernt. Das ist auch schon wieder was, das sich durch die Generationen zieht: keine bzw. kaum Familie zu haben.

22.03.2025 11:09 • x 7 #33


Vienne
Zitat von justawoman:
Ich trage nur die Geschichte meines Vaters mit mir herum, weil ein Großteil seiner Familie ermordet wurde, insofern habe ich meine Großeltern nie kennengelernt. Das ist auch schon wieder was, das sich durch die Generationen zieht: keine bzw. kaum Familie zu haben

Nur...puh ..ist natürlich sehr tragisch, dass sich das so ausgewirkt hat bei dir. Tut mir sehr leid...

Ja, ich finde es auch extrem, was ihr zugestoßen war.
Sie war aber nie verbittert zum Glück.
Ihr erster Mann floh nach Israel, hat es dahin auch geschafft. Sie ging nicht mit ihm, da sie große Angst um ihre Mutter hatte...ihr Vater starb 38 unerwartet, daher war der Zustand ihrer Mutter psychisch labil...und auch meine Urgroßmutter wurde unter Druck gesetzt des jüdischen Schwiegersohnes wegen.

Nach dem Krieg trennten sich meine Großeltern...mein Großvater war ein merkwürdiger Pedant, ich konnte meine Großmutter gut verstehen, mit ihm konnte man nicht wirklich zusammenleben, er war extrem schwierig.

Die Tragik an der Geschichte eigentlich war, dass ihr erster Mann 1956 retour kam...aber meiner Großmutter nicht verzeihen konnte, dass sie nochmals geheiratet hatte, obwohl sie schon lange getrennt war.
Sie war eine sehr schöne und liebenswerte Frau, mit viel Herz...hat sich aber nie wieder auf einen Mann eingelassen, so sehr liebte sie noch immer ihren ersten Mann.

Eine bitter-süße Liebesgeschichte...

22.03.2025 11:49 • x 6 #34


L
@justawoman ich wünsche dir für deine eigenen Erfahrungen alles Gute!
Deine Schilderungen - ich hoffe du nimmst mir das nicht übel, wenn ja, sag bitte Bescheid - lesen sich wie eine typische Reaktion auf das unermessliche Leid der Eltern und deren damaligem Umfeld.

Die Kinder versuchen so tapfer eine Haltung einzunehmen, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse kaum oder erst sehr spät anschauen/spüren/ernst nehmen können.

Das könnte man schon als sekundäre Traumatisierung auffassen. Na ja, ist auch im Detail nicht so wichtig. Ich will es nicht sezieren oder so.

Kinder von traumatisierten Eltern haben häufig eine sehr ausführliche innere Erzählung über die Belastungen der Eltern entwickelt. Über die Flucht, Verfolgung, Verluste, Bedrohungen etc.
Aber sie selber sind seltsam außen vor in ihrem inneren familiären Skript.

Und wie allein muss man sich fühlen, sich klar zu werden, dass die Eltern keine Kapazitäten für einen selbst hatten.

Für mich ist es etwas leichter btw. ruhiger in mir, seit meine Mutter verstorben ist, und zu meinem Vater oder weiteren Verwandten besteht kein Kontakt. Und das aus guten Gründen.

22.03.2025 11:56 • x 3 #35


Z
Zitat von Vienne:
Die Tragik an der Geschichte eigentlich war, dass ihr erster Mann 1956 retour kam...aber meiner Großmutter nicht verzeihen konnte, dass sie nochmals geheiratet hatte, obwohl sie schon lange getrennt war.

Anstatt zu schätzen, was sie für ihn auf sich genommen hatte?
Wahrlich tragisch. Leider waren die Glaubenssätze früher sehr streng oder oft merkwürdig gewesen.
Haben auch zu viel Unglück geführt.

22.03.2025 12:00 • x 3 #36


Vienne
Zitat von Zaungast:
Anstatt zu schätzen, was sie für ihn auf sich genommen hatte? Wahrlich tragisch. Leider waren die Glaubenssätze früher sehr streng oder oft merkwürdig gewesen. Haben auch zu viel Unglück geführt.

Ja, leider ... natürlich war er sehr dankbar, dass sie seiner Mutter und Schwester geholfen hatte...sie konnten sich ein neues Leben in den USA aufbauen.

Er konnte es aber leider nicht mit seinen Moralvorstellungen vereinbaren, dass meine Großmutter ein Kind von ihrem zweiten Mann hatte. Er mochte meine Mutter...aber sie war hellblond...eben sehr unpassend. Und seine Ressentiments waren verständlicherweise sehr groß... seine gesamte Familie vertrieben, sein Unternehmen weg, die Fabriken in Italien enteignet, der Familienwohnsitz, das Vermögen verloren, die geliebte Ehefrau wieder verheiratet, wenn auch getrennt.
Es waren eben damals andere Einstellungen...leider...

Er ging nach Israel zurück und starb bald...er konnte das alles nicht verkraften.

22.03.2025 12:17 • x 5 #37


J
Zitat von Vienne:
Nur...puh ..ist natürlich sehr tragisch, dass sich das so ausgewirkt hat bei dir. Tut mir sehr leid... Ja, ich finde es auch extrem, was ...

Das ist wirklich tragisch. Ich finde es wichtig, dass die Menschen ihre individuelle Geschichte erzählen, weil so erst begreifbar wird, was anhand von Zahlen nicht verdeutlicht werden kann.

22.03.2025 12:24 • x 2 #38


J
Zitat von LebedeinLeben:
@justawoman ich wünsche dir für deine eigenen Erfahrungen alles Gute! Deine Schilderungen - ich hoffe du nimmst mir das nicht ...

Ich nehme dir das überhaupt nicht übel, ich finde mich regelmäßig in den Beschreibungen der Kinder anderer Überlebender wieder.

Es ist traurig, wenn man sich vor den eigenen Eltern schützen muss. Ich habe meinerseits wenig Kontakt zu meiner Mutter. Im Gegensatz zu meinem Vater hat sie ihr Leid immer bei mir abgeladen, schon als ich noch klein war. Das war mir irgendwann zu viel. Ich möchte nicht mehr die Mutter meiner Mutter sein.

22.03.2025 12:31 • x 3 #39


J
@LebedeinLeben

Zitat:
Die Kinder versuchen so tapfer eine Haltung einzunehmen, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse kaum oder erst sehr spät anschauen/spüren/ernst nehmen können.


Als Kind von Überlebenden ist man so vieles: Gedenkkerze, Hoffnungsträger, Trost, Ersatz - derjenige, der die Familie wieder reparieren und ganz machen soll. Statt einfach nur Kind sein zu dürfen.

22.03.2025 12:37 • x 3 #40


Z
Zitat von Vienne:
Er ging nach Israel zurück und starb bald...er konnte das alles nicht verkraften.

Puh, diese Story geht wirklich unter die Haut.

Ich hatte eine Weile beruflich viel mit Senioren zu tun. Da kamen Geschichten. Oft ist es so, dass wenn sie merken, es geht zu Ende redselig werden. So erzählten sie, was sie Jahrzehnte in sich trugen.
Oft ging es dabei um die Männer, welche sie kriegsbedingt nie wieder gesehen hatten.
Da waren einige dabei, welche nie wieder liiert waren danach.

22.03.2025 12:40 • x 4 #41


Hola15
Diese häufigen Träume unter Zeitdruck alles zu packen und nicht fertig zu werden…
Gerade wo ich es schreibe, fällt mir auf, dass ich das nun nicht mehr träume, dafür die ganze Nacht sehr geschäftig und stressig unterwegs bin.
Ein Fortschritt? Dank meinem Traumatherapeuten, der sich bis zu meiner Entnervung auf (meine) transgenerationale Traumatisierung eingeschossen hatte?
Mal schauen ob ich in diesem Leben dann auch nochmal ankomme, geschweige denn, mich beheimatet fühle.

Ich hätte mal ne Frage: In meiner Erinnerung war mein Vater schon immer so offensichtlich „gestört“, dass ich das immer bei ihm und seiner Geschichte gelassen und nicht auf mich bezogen habe.

Allgemeiner Konsens ist ja nun aber, dass Kinder das immer auf sich beziehen und sich schuldig oder minderwertig fühlen.
Ich spür das nicht. Ich glaube ich verhalte mich auch nicht dementsprechend.

Alles was im Rahmen der Parentifizierung ist, also Eltern schonen, evtl. trösten, somit eigenes zurückstecken und unangebrachte Verantwortung übernehmen, sich nur auf sich selbst verlassen (können), früh eine große Eigenständigkeit entwickeln bis zum Burnout, etc., etc… mit seinen negativen (aber auch positiven) Auswirkungen…alles JA.
Aber obiges spür ich einfach nicht oder meine dementsprechenden Gefühle werden so gut geschützt, dass ich da keinerlei Zugang zu habe. Ich kann mir das (dass mein Vater halt gestört ist und nicht ich) doch nicht schon im Kleinkindalter gedacht haben, oder?
Wie ging’s euch mit traumatisierten Elternteilen?

Und wie geht’s euch damit, sie nicht mit ihren Biografien „zu entschuldigen“, sondern auch das zu würdigen, was in euch „zum Opfer“ geworden ist?

22.03.2025 12:43 • x 3 #42


J
@Hola15

Zitat:
Ich hätte mal ne Frage: In meiner Erinnerung war mein Vater schon immer so offensichtlich „gestört“, dass ich das immer bei ihm und seiner Geschichte gelassen und nicht auf mich bezogen habe.

Allgemeiner Konsens ist ja nun aber, dass Kinder das immer auf sich beziehen und sich schuldig oder minderwertig fühlen.
Ich spür das nicht. Ich glaube ich verhalte mich auch nicht dementsprechend.


Das finde ich total spannend, denn das geht mir mit meinem Vater genauso, mit meiner Mutter dagegen nicht, obwohl ihre Lebensgeschichte kaum weniger tragisch ist. Ihr nehme ich Dinge übel, die sie zu mir gesagt hat und was sie getan hat, meinem Vater nicht. Bei ihr bin ich allerdings auch immer wieder auf krasse Ablehnung bzw. auf absolute Unzuverlässigkeit und Unberechenbarkeit gestoßen. Das war bei meinem Vater nicht so. Mein Vater war in seiner Gestörtheit sehr verlässlich, geradezu vorhersehbar. Er war wie ein Uhrwerk. Ich wusste genau, um welche Uhrzeit er spazieren geht, wann er kocht, isst, schläft. Auch die Besuche bei ihm liefen immer gleich ab, da gab es keine Momente der Überraschung. Meine Mutter ist Chaos pur. Man weiß nie, woran man bei ihr ist. Heute so, morgen so. Das macht mich krank.

22.03.2025 13:12 • x 4 #43


J
Ich habe auch eine Frage an euch: Fällt es euch auch manchmal schwer, an andere Menschen anzuschließen, weil eure Lebenswirklichkeit so anders war/ist als die der meisten anderen Menschen? Ich habe eigentlich keine Schwierigkeiten, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, werde als freundlich, offen und humorvoll wahrgenommen. Aber ich fühle mich oft abgetrennt von anderen Menschen und in Erklärungsnot, weil mein Leben so anders verlaufen ist. Ich bin im Krieg aufgewachsen mitten im Frieden. Ich weiß nie, wie viel ich von mir erzählen soll, wenn der Kontakt enger wird, wie viel ich anderen von meiner Geschichte zumuten kann.

22.03.2025 13:19 • x 5 #44


L
@Hola15 Doch, auch sehr kleine Kinder ihren eigenen inneren Kompass schon wahrnehmen. 3 Jährige können schon genau wissen, was normal ist oder z.b. gefährlich in der Familie.

22.03.2025 13:20 • x 1 #45


A


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