Einfach mal lesen, sacken lassen und drüber nachdenken. ;)
Sind sie tolerant?
Toleranz ein schönes Wort! Natürlich sind wir alle tolerant. Oder glauben zumindest, es zu sein.
Bei genauerer Betrachtung jedoch wird die Sache mit der Toleranz ziemlich kompliziert.
Vielleicht gibt es sie nämlich gar nicht, die Toleranz.
Wir leben in einer modernen Welt, offen, neuzeitlich und tolerant.
Vorbei sind die Zeiten, als Hexen verfolgt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, nur weil sie irgendwelche Kräuter mischten und verabreichten. Vorbei sind auch die Zeiten, wo man die S. verteufelte und im Extremfall Frauen nach einem Seitensprung steinigte. gleichgeschlechtlich und Lesben werden heute ebenso geduldet wie Menschen, die am Sonntag im Bett liegen bleiben, statt in die Kirche zu gehen.
Wir sind eben offen, modern, tolerant.
Das Wort tolerant stammt vom lateinischen tolerare und heißt tragen, ertragen, erdulden.
Wer also glaubt, wirklich tolerant zu sein, muss sich die Frage gefallen lassen, was und wie viel er zu tragen, zu ertragen oder zu erdulden im Stande ist. Bevor wir uns mit Detailfragen befassen, erst noch eine etwas allgemeine (dafür aber ketzerische) Frage: Glauben Sie, dass Sie wirklich tolerant sind? Tolerieren sie demzufolge auch die Intoleranz anderer Menschen, die Machenschaften von Terroristen, Kinderschändern, Atheisten oder Mördern?
Falls Sie diese Frage mit ja beantworten: Finden Sie es gut, dass Sie so tolerant sind? Falls Sie die Frage verneinen, müssen Sie sich den Vorwurf gefallen lassen, gar nicht wirklich tolerant zu sein. Oder wo ist denn Ihre Grenze? Kann man ein wenig tolerant sein, kann man etwas mehr oder gar grenzenlos tolerant sein? Die Sache mit der Toleranz ist, wie man sieht, nicht ganz einfach. Vielleicht ist es besser, wenn wir uns darauf einigen, dass der Begriff Toleranz gar nicht definierbar und folglich ein Unsinn ist. Trotzdem wird er immer und immer wieder verwendet. Natürlich vor allem dann, wenn wir erwarten, dass andere uns gegenüber tolerant sind.....
Toleranz und Liebe
Liebe so behaupten jedenfalls Philosophen und Mystiker hat sehr viel mit Bedingungslosigkeit zu tun. Wer wirklich liebt, der stellt keine Bedingungen. Wer keine Bedingungen stellt, der ist tolerant. Er trägt, er erträgt und er duldet, weil er liebt. Nehmen wir einmal an, dass Sie ihren Ehe- oder Lebenspartner sehr lieben. Also nicht nur lieben, sondern sogar sehr lieben. Das wird ja oft behauptet.
Nehmen wir also an, dass dieser Partner drei Liebhaberinnen hat. Ertragen Sie das? Tolerieren Sie das? Falls nein: Sind Sie ganz sicher, dass Sie Ihren Partner lieben? Wenn Sie ihn nämlich lieben, dann mögen Sie ihm doch alles gönnen, was ihm gut tut. Vielleicht tut es ihm wirklich gut, wenn er regelmäßig Kontakt zu drei Liebhaberinnen pflegen kann.
Zu einer Dunkelhaarigen, zu einer Blondine und zu einer Rothaarigen, weil sie selbst eine Brünette sind.
Wollen Sie tatsächlich in dieser Situation noch tolerant sein?
Natürlich behaupten auch viele Männer, dass sie ihre Ehefrauen sehr lieben. Wie groß wäre diese Liebe noch, wenn die Frau beide Brüste oder beide Beine amputieren müsste? Oder wenn sie bedingt durch einen Unfall das ganze Gesicht entstellt hätte? Könnten Sie das erdulden, ertragen oder gar mittragen? Falls nein: Behaupten Sie immer noch, Ihre Frau zu lieben und wirklich tolerant zu sein? Möchten Sie lieber ehrlich sein und sagen, was viele immer wieder sagen: Ich bin schon tolerant, aber....
Vielleicht ist es mit den eigenen Kindern etwas einfacher als mit der Partnerin oder dem Partner. Die eigenen Kinder liebt man bekanntlich noch bedingungsloser. Nehmen wir einmal an, ihr 18-jähriger Sohn erklärt Ihnen, das er gleichgeschlechtlich sei.
Seit einiger Zeit habe er einen Freund. Dieser sei 56-jährig, Afrikaner, von schwarzer Hautfarbe und erst gerade vor drei Monaten nach einem längeren Gefängnisaufenthalt in die Freiheit zurückgekehrt.
Ihr Sohn erklärt Ihnen im Weiteren, dass er seinen Freund wirklich sehr liebe, dass er mit ihm eine erfüllende, befriedigende S. lebe und dass die gemeinsame Absicht bestünde, demnächst mit ihm nach Afrika auszuwandern.
Ertragen Sie das? Tolerieren Sie das? Sie lieben ja Ihren Sohn und mögen ihm deshalb alles gönnen, was ihm gut tut.
Und vielleicht tut ihm diese Freundschaft tatsächlich gut.
Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie jetzt erleichtert sind, weil Sie nicht vor dieser Situation stehen? Möchten Sie immer noch tolerant sein, oder genügt es Ihnen, wenn Sie Ihrem Toleranz-Begriff ein Aber hinzufügen dürfen?
Toleranz und Geduld
Tolerieren heißt auch wie bereits eingangs erwähnt erdulden. Bekanntlich gibt es im Leben immer wieder Situationen, die erduldet werden müssen. Geduld ist gefragt. Angenommen, Sie werden in Ihrer Firma gemobbt, verlieren schließlich den Job und sind arbeitslos. Die Suche nach einer neuen, passenden Stelle erweist sich als schwierig.
Eine ziemlich ungemütliche Sache. Können Sie das erdulden, tolerieren?
Wie groß ist Ihre Wut über den alten Chef, über die ehemaligen Mitarbeiter, die sie gemobbt haben und über die ungünstige Wirtschaftslage? Wird von sich behauptet, wirklich tolerant zu sein, der könnte eben gerade solche Momente mehr oder weniger ohne Probleme ertragen und erdulden. Tolerieren eben.
Toleranz, Gleichgültigkeit und Gelassenheit
Wer von sich behauptet, wirklich tolerant zu sein, dem könnte man vorwerfen, gleichgültig durchs Leben zu gehen.
Er erträgt alles, er trägt alles, er erduldet alles.
Dürfen wir das?
Ist das der Sinn des Lebens, einfach alles zu erdulden und zu ertragen? Natürlich gebe ich Ihnen darauf keine Antwort.
Es geht mich nichts an, wie viel Sie in Ihrem Leben tragen, ertragen und erdulden wollen. Jeder entscheidet dies für sich selbst. Ich persönlich würde noch einen kleinen Unterschied machen zwischen Gleichgültigkeit und Gelassenheit. Unter Gleichgültigkeit verstehe ich eine desinteressierte, passive Haltung gegenüber sich selbst, den anderen und dem Leben überhaupt. Gelassenheit hingegen ist etwas Aktives.
Es heißt, etwas, das nicht veränderbar ist, anzuschauen, es aber so lassen zu können, wie es ist, ohne sich damit zu quälen. Das Leben bietet bekanntlich nicht immer exakt das, was wir wollen. Aber jederzeit und überall alles tolerieren? Nein, das will ich nicht und das kann ich auch nicht.
Und das muss ich nicht.
Fragt mich künftig jemand, ob ich tolerant bin, so werde ich es mit Nein beantworten.
Behauptet jemand, er sei tolerant, so werde ich diese Aussage mit Vorsicht genießen, nachfragen und allenfalls relativieren.
Vielleicht gibt es sie nämlich gar nicht, die Toleranz.
14.11.2004 12:48 •
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