Ich kann mich als Person empfinden, erspüren und erkennen wie niemand sonst, nämlich subjektiv. Je mehr ich mich nach innen wende und je klarer ich mir meine eigene Perspektive von der Außenwelt schaffe, um so sinnvoller kann ich entscheiden, wie ich Mitwirkender an meinem Lebensprozess bin und/oder sein möchte.
Nur ich und niemand sonst kann meine Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gefühle und Gedanken für mich erleben und vertreten, niemand außer mir hat meine Erinnerungen und Sehnsüchte und entscheidet für mich. Ich kann mein Bewusstsein erweitern durch Nachdenken, Nachspüren, Suchen nach Wahrhaftigkeit, Bitten um Hilfe und Kooperation. Doch ich bleibe ich selbst, die/der sich ändert. Je mehr ich diese offene, suchende Haltung in mir bewahre, um so leichter wird es mir, offen und tolerant mit anderen zu sein: ´Liebe deinen Nächsten wie dich selbst - er ist wie du´- eigenständig UND interdependent.
Ruth Cohn (1984)
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Hier kam öfter mal die Frage, wie weit Toleranz reichen kann / soll ... ob sie Vergewaltiger, Kinderschänder, päd. oder schlagende Ehemänner mit einschließt. Ich verstehe Toleranz in diesen Fällen so, dass sie bedeutet, nicht abzuurteilen. Das bedeutet nicht, dass die Gesellschaft nicht das Recht hätte, vor Verhaltensweisen geschützt zu werden, die die Grenzen Einzelner wie zum Beispiel das Recht auf körperliche Unversehrtheit überschreiten/verletzen.
Toleranz bedeutet aber in diesem Falle für mich, seinen Blick zu erweitern und anstatt solche Menschen pauschal zu verurteilen - was in diesen Fällen wohl sehr leicht ist und einen dann davon entbindet, sich eingehender mit den Hintergründen für solches Verhalten zu befassen - zu versuchen zu verstehen, was dazu geführt hat. Im schlimmsten Falle führen das pure Aburteilen und jegliches Fehlen von Toleranz dann zu Parolen wie: Todesstrafe für Kinderschänder oder Das sind keine Menschen, das sind Tiere!
Ich kann sehr gut verstehen und möchte mich davon nicht ausnehmen, dass die regelmäßigen Pressemeldungen - man denke nur an Belgien! - spontane Abscheu und jegliches Unverständnis hervorrufen, weil sie unserem eigenen Erleben so weit entrückt sind, dass wir keine Parallelen mehr zum eigenen Erleben herstellen können. Wie kann ich da noch Toleranz üben?! Befasse ich mich aber eingehender mit Einzelfällen zum Beispiel s.ueller Perversionen, so werde ich in der Lebensgeschichte dieser Menschen sehr nachvollziehbare Erklärungsansätze für das Entstehen dieser Störungen finden, sehen, dass ihr Verhalten aus eigener inner Not heraus entstanden ist und solche Störungen als fehlgeleitete Lösungsversuche für unüberbrückbare innere Spannungszustände begreifen.
Wie gesagt macht dieser Ansatz keine Aussage über den juristischen Umgang mit Straftätern. Aber es ging ja auch um den Begriff der Toleranz.
Mit eben der von Ruth Cohn beschriebenen Suchhaltung kann ich versuchen, mich auch Erleben und Verhalten zu nähern, dass unendlich weit vom eigenen Erfahrungshorizont entfernt zu sein scheint. Das ist zugegebenermaßen eine große Herausforderung, erfordert Bereitschaft, Arbeit und Energieeinsatz.
Insofern ist Toleranz für mich eine Herausforderung und ständige Arbeit an der Erweiterung des eigenen Bewusstseins ... und lässt sich demnach auch nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten.
09.01.2005 20:51 •
#67