Hallo mein Schatz,
...wie merkwürdig, dass es sich in diesem Augenblick richtig anfühlt, dich wieder Schatz zu nennen. Ich idealisiere womöglich wieder. Ich stelle dich mir ganz zart und liebevoll vor, aber du wärest es ja nicht, stündest du gerade vor mir.
Es ist fast 3 Uhr. Ich habe die Erinnerungen an dich und meine Gefühle dazu den ganzen Tag verdrängt. Ich habe mir Blödsinn im Internet reingezogen, einen Film angeschaut, der mir im Grunde gar nichts bedeutet. Ich habe mir Dinge gekauft, die ich zwar brauche, die aber nicht so dringend gewesen sind. Hauptsache Ablenkung, Hauptsache Nichtdenken, Hauptsache raus. Jetzt zahle ich für diese Verdrängung. Mir kommt kein Schlaf, dafür aber eine lange Kette von Erinnerungen. Wie ironisch, dass ich mich mit vielen dieser Erinnerungen einst über jederlei Gräuel hinwegtröstete, als wir noch zusammenwaren. Wenn die Trennungsgedanken sich geiergleich um unsere weidwunde Ehe kreisten, dann kamen mir diese Erinnerungen, um den Schmerz zu lindern und die Aasfresser kurzzeitig zu vertreiben.
Jetzt tun mir diese Kopfbilder nur noch weh. Sie rauben mir den Atem, drehen mir den Magen um, verderben den Appetit und lösen manchmal sogar Würgreize aus.
Ich erinnere mich an den Sternenhimmel im schwedischen Fjäll. Ich spüre dich noch auf meinem Schoß, wie du eine heiße Tasse in den Händen hältst und meinem Zeigefinger mit dem Blick nach oben folgst. In dieser Nacht habe ich dir Sterne gezeigt, wie du sie noch nie gesehen hast. Ich hatte dir vor Jahren einen Urlaub im amerikanischen Westen ausgemalt, Nächte voller Sterne, aber ich war nie stark genug, nach Amerika zurückzukehren. In dieser Nacht, im schwedischen Polarkreis, unter diesem majestätischen bestirnten Himmelszelt hatte ich plötzlich das Gefühl, es dir wiedergutzumachen. Ich zeigte dir endlich die Sterne. Wir sahen sogar Satelliten in dieser schönen klaren Nacht. Erinnerst du dich? Ich höre noch dein Flüstern, dein ergriffenes, wiederholtes Guck mal!. Ich sehe noch, wie der Vollmond - nur wenige Stunden später - über das Gebirge steigt und alles in sein hellweißes Licht taucht. Wie lässt sich eine solch zauberhafte Nacht in eine lange Reihe von Erlebnissen fügen, die letztendlich so endet, wie unsere Ehe jetzt endet? Wie ist es möglich, dass die Frau, die ich früh morgens am Tisch in der Wanderhütte vorfand, diese Frau, die durch das Fenster einen schillernden Regenbogen über den gewaltigen blauen Weiten eines Gletschersees bewunderte...wie ist es möglich, dass du diese Frau bist?
Was für ein Urlaub das war! Ich wollte anfangs gar nicht mit. Ich hatte einfach keine Kraft dafür, etwas in mir spürte, dass ich damals schon leer war. Aber ich wollte dich nicht enttäuschen und in mir ist schließlich ein Naturkind, ein Tscherokesenanteil. Ich war nie im Herzen ein Städteliebhaber. Ich gab nach, kaufte mir Wanderstiefel, buchte den Flug. 250 km zu Fuß durch die Wildnis. Nur du, ich und ein Zelt. Wir träumten davon, gemeinsam dem Lärm zu entkommen, gemeinsam ein Leben in Ruhe, in der Natur zu verbringen, dort zu leben, wo die Adler noch von den Klippen schreien und Rentiere durch die Gegend ziehen. Wie gerne hätte ich mit dir ein solches Leben gelebt und auf eine solche Zukunft nach meinem Studium hingearbeitet!
Aber während dieses Urlaubs spürte ich auch allmählich, wie alleine ich innerlich war, wie sehr ich dich mittragen musste, wie bedürftig und häufig hilflos du warst. Wenn wir anderen Paaren begegneten oder abends in den Hütten bei anderen zusammensaßen, dann spürte ich etwas Unangenehmes, als müsste ich etwas über unsere Beziehung vor all diesen Menschen verbergen. Ich glaube, etwas in mir befürchtete, sie könnten womöglich herausbekommen, dass unsere Beziehung sich in eine Art Vater-Kind-Bindung verwandelt hatte. Die Menschen dieser anderen Paare schienen mir auf Augenhöhe miteinander zu stehen. Bei uns fehlte mir das...und das schon lange. Zudem ahnte ich immer mehr, dass - wenn wir denn solchen Zukunftsträumen nachgehen sollten - ich derjenige sein würde, der sich fast gänzlich für die dazu nötige Arbeit aufgäbe. Das war schon bei so vielem der Fall gewesen und jetzt auch beim Studium. Allmählich glaubte ich, es könnte niemals anders werden...
Diese Erinnerungen tun mir so weh! Es fährt mir durch die Brust wie ein heißes Messer. Es dringt mir oben in die Magengegend. Es schmerzt so sehr, an all die Augenblicke zu denken, in denen wir lachten und Spaß hatten, in denen wir ein Ende gar nicht ahnten. So viele aufregende Abenteuer...so viele Polarlichter gesehen...so viele Träume ausgeträumt. Am Ende dieses Urlaubs glaubten wir, du könntest sogar schwanger sein. Deine Tage setzten plötzlich aus. Aber du hattest dich lediglich mit dem Wandern übernommen...so wie du dich sehr häufig übernommen hast. Wie oft eigentlich? Es war jedenfalls nicht selten...schließlich war ich ja immer da, um dich aufzufangen, wenn du wider besseres Wissen deinen Teller mit Terminen, Zusatzarbeiten, Besuchen, Zusagen etc. überladen hattest. Ich würde zu viel essen, hast du mir häufig vorgehalten. Dafür hast du dich ständig am Leben übergessen und ich sollte immer die Kotze wegzuwischen...
Als wir glaubten, du wärest schwanger, ging es los mit der Streiterei. Es verdarb mir das Ende des Urlaubs, es raubte mir fast eine ganze Woche lang die Ruhe. Ich hatte gerade endlich - nach Jahren der Knochenarbeit - mit einem Studium anfangen können und wollte kein Vater werden. Und jetzt merke ich auch, dass ich gegen Kinder grundsätzlich gar nichts habe...etwas in mir merkte nur, dass ich eine solche Verantwortung mit dir nicht teilen wollte und hätte es auch gar nicht können, weil du nicht mal in der Lage warst, dich selbst ins Bett zu legen und allein einzuschlafen! Ich habe so gut wie jeden Tag gekocht (auch wenn du daheim warst und ich an der Uni), den Tisch gedeckt, die Wohnung gesaugt, Kaffee gemacht, fast täglich studiert, dir abends manchmal bis zu zwei Stunden Geschichten vorgelesen, dir den Rücken gekrault, dich zum Einschlafen gebracht, dann zwischen 0 und 4 Uhr MEINE Zeit für die Nachbereitung meines Studiums gehabt. Ich verlor ständig Boden und merkte es nicht mal! Irgendwann stand ich auf einem Quadratmeter und fragte mich, wie es dazu gekommen war. Man sagt, ein Frosch könnte bei lebendigem Leib zu Tode gekocht werden, wenn die Wassertemperatur nur langsam genug zunähme. Jetzt weiß ich immerhin, dass bei Menschen ähnliches stimmt!
O ja, ich solle mir doch einfach mehr Raum nehmen! Aber wenn ich es tat, dann konntest du x oder y nicht, dann kamst du heulend zu mir, manchmal fast panisch vor Angst. Manchmal wolltest du direkt, dass ich dich rette, dich nochmal ins Bett bringe. Manchmal schwiegst du mich nur eine halbe Stunde an, mal vorwurfsvoll mal nicht. Du hattest nicht mehr den Mut, mich um das Übliche anzuflehen. Wenn ich dir sagte, ich könnte so nicht weiterleben, du müsstest bitte etwas ändern, hieß es Geh doch! Gehst eh nicht. Und du hattest oft recht. Ich nahm mich selbst nicht ernst. Ganz gleich, was ich tat und was du für klassische Spießdrehkünste ausgeübt hast...ich habe FAKTISCH immer die Stille und die Zeit für mich verloren.
Ich habe das Leben schließlich in dieser Wohnung mit dir verabscheut, ich hatte irgendwann ANGST davor, die Tür aufzuschließen und abends hineinzutreten. Ich war NIRGENDS mehr zu Hause. Unter der Oberfläche einer jungen 7-jährigen Ehe tobte für mich ein Dauerkrieg, für dich ein Schachspiel der Ausbeutung und Manipulation. Ich sage nicht mal, dass es bewusst war...Ich sage es ohne Vorwurf. Die Mücke versenkt ihren Rüssel ins Fleisch, der Säugling sucht mit den Lippen nach der Mutterbrust, die Spinne wickelt die Fliege ins Netz...alle unbewusst und nur um zu überleben. Du hast geglaubt, selbst nicht leben zu können, also hast du meine Lebenskraft zu erlangen versucht. Etwas in dir glaubte, du könntest sie auch bekommen. Etwas in dir glaubte, den Hunger mit ihr stillen zu können. Etwas in dir glaubte, das würde helfen.
Als ich nichts mehr zu geben hatte und gehen musste, hast du mir ins Gesicht geworfen, dass du mich nicht brauchst, dass du auf dem besten Wege bist. Das wirkte so, als hätte ich mir deiner Ansicht nach alles eingebildet. Woran bin ich denn zugrunde gegangen? Und warum bist du nun so verbittert, warum verweigerst du mir den Kontakt? Weil du mich eben doch gebraucht hast, wie eine Dro.. Und jetzt bist du wütend, weil ich dir den Stoff entzogen habe.
Es ist Viertel nach Vier. Jetzt werde ich wieder versuchen zu schlafen. Ich hoffe, dass du es wenigstens kannst.
07.05.2015 03:17 •
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