Liebe Lesenden,
ich möchte an dieser Stelle etwas über die letzten fast 19 Jahre mit einer Online-Bekanntschaft loswerden. Auch in der Hoffnung, dass mir das beim Verarbeiten meines Kummers hilft.
IHN habe ich kurz nach meiner Volljährigkeit im Internet kennengelernt. Auf den Beruf ausgerichtete Fragen als Grund unseres ersten Kontaktes wurden in wenigen Wochen durch sehr viel intimere Gespräche abgelöst. Ich war nicht nur jung, sondern auch reichlich naiv, Worten eines für mich damals Fremden Glauben zu schenken. Mein Elternhaus kann man nicht als solches bezeichnen. Weder mütterlicher- noch väterlicherseits gab und gibt es eine Bindung, die man als normal beschreiben könnte. Schon in der Kindheit war es ein eher nüchternes bis ablehnendes Verhältnis. Die Erwartungshaltung an mich wurde zwar hochgesteckt, aber anstatt Lob und Anerkennung erhielt ich von den Eltern herunterspielende Aussagen, wenn Ziele und Erwartungen erfüllt oder übertroffen wurden. Investieren, auch finanziell, in meine Zukunft? Keine Spur. Was ich mir vorstelle, würde ich nicht erreichen oder sei eine aussichtslose berufliche Zukunftsperspektive. Man wolle mit der versagten Unterstützung Fehlausgaben vermeiden.
Nicht so bei IHM. ER half mir in der Ausbildung, unterstützte mich in den ersten beruflichen Schritten; später überschüttete er mich zu mit Komplimenten, mit Anerkennung und auch (rein online) geäußerten Begehren. Das wiederum gefiel mir gut. Ich ließ mich davon einfangen. ER ist mehr als 30 Jahre älter als ich, verheiratet, hat Kinder. Wir hatten keine Affäre im eigentlichen Sinn, keinen S., aber irgendwie fühle ich mich trotzdem ausgenutzt und in die Ecke gestellt ähnlich einer Geliebten - einfach abserviert. Klingt blöd, oder? Zumal man nur abservieren kann, mit dem man etwas hatte.
Im Nachhinein wird bewusst, dass ER eine Projektionsfläche war und ich wohl einen Ersatzvater in ihm suchte. ER half bei der Prüfungsvorbereitung auf meine Ausbildungsprüfung (alles online). Er kaufte oder stellte mir Arbeitsmaterial zur Verfügung, was er freilich nicht hätte tun müssen. Es gab im Laufe der Situationen, mit denen er mich vollends um den Finger wickeln konnte. Das waren insbesondere Gesten, von denen ich dachte oder wusste, dass sie sich so auch bei „normalen“ Familien abspielten. ER machte also diverse Dinge, die mich ihn gedanklich in eine Ersatzvater-Position rücken ließen. Unsere Online-Austausche und auch Telefongespräche wurden immer häufiger, immer länger. Treffen gab es dagegen kaum. Die Entfernung ist einfach riesig. Er erzählte von seiner Frau, den Kindern, den Vorkommnissen von Arbeit und zu Hause. Ich erzählte von meinen Sachen. Immer mehr Zeit floss in zunehmend privateren Austausch. Die Inhalte unserer Onlinegespräche wurden S.. Ich ließ mich darauf ein. Er säuselte, er liebe mich. Jaja, was Fremdgänger eben so sagen, dachte ich noch am Anfang. Er schrieb und sagte es immer häufiger, über Jahre. Irgendwann hab ich es geglaubt. Ich wartete auf ihn. Wartete auf seine Nachrichten. Als wäre ich ein J.. Die Tatsache, ob er sich meldete oder nicht, bestimmte bis zum Schluss meinen psychischen Tageszustand - von zu Tode betrübt bis himmelhochjauchzend. Hab mich inzwischen belesen und festgestellt, dass ich offenbar zu den emotional-abhängigen Persönlichkeiten gehöre. Ich weiß nicht genau, ob ich ihn tatsächlich geliebt habe, aber ich war viele Jahre der festen Überzeugung. Wobei Liebe für mich bedeutete, zu verhindern, dass er mich allein lässt, sich abwendet von mir. Dieser aggressive Besitzanspruch, dieses Vereinnehmen und die Verlustangst als vermeintliches worst-case-Szenario sind wohl typisch für einen Vaterkomplex.
Kurzum: Ich hab geklammert. Damit bin ich ihm über die Jahre wohl tüchtig auf den Geist gegangen. Von seinen euphorischen Begehrensbekundungen ist zuletzt nichts mehr übrig geblieben. Er spielte von Anfang an mit offenen Karten: Er werde seine Familie nicht verlassen. Warum auch, dachte ich noch in meiner Naivität. Doch mit den Jahren wollte ich mehr (emotional/mehr Gefühle). Mehr, als er zu geben bereit gewesen ist. Je mehr ich wollte, je mehr Zeit ich mit ihm verbringen wollte, umso abgeneigter und ablehnender wurde er. Die emotionale Distanz zwischen uns wurde größer. Ich müsse mir einen gleichaltrigen Partner suchen, sagte er mir des Öfteren. Aber ich wollte ihn. Wollte, dass er den Kontakt zu mir hält. Online war ich seine Ablenkung. Seiner Frau erzählte er nichts von der nächtlichen Abendbeschäftigung.
Je länger wir uns kannten, umso häufiger krachte es. Die Streitereien waren heftig, teils extrem. Wütend machten mich vor allem seine Versprechungen, die im Großteil der Fälle nicht eingehalten wurden. Er versprach beispielsweise Treffen. Darauf freute ich mich. Freute mich auf die gemeinsame Zeit mit ihm. Das in Aussicht gestellte Treffen, hat er entweder am selben Tag oder am Tag danach sofort wieder gecancelt. Vor gut sechs Jahren sagte er mir klipp und klar, dass er mich nicht liebe. Er könne doch seine Familie nicht verlassen. In seinem Alter doch nicht. Was würden nur die Leute denken? An seine schnulzigen Liebesbekundungen konnte er sich natürlich nicht mehr erinnern. Irgendwann entschied er offenbar für sich, dass ich zu viel von ihm wüsste. Seinen Namen, Adresse, Job und so weiter. Ich könnte ihn kompromittieren! Allein die theoretische Möglichkeit, die ich ihm nie „angedroht“, geschweige denn umgesetzt habe, ließ ihn noch weiter Reißaus nehmen – so begründete er seinen Rückzug zumindest.
Über viele Jahre erzählten wir uns gegenseitig, was im Leben des anderen so vorging. Plötzlich hieß es auf meine Nachfragen, dass er keine Familien-Internas herausgebe. Ich fühlte mich von einer Vertrauensperson zu einer Feindin degradiert, mit der man unter keinen Umständen keine Informationen teilen darf, die ich im theoretischen Fall gegen ihn hätte verwenden können. Ich war tief verletzt, gekränkt.
Von ihm (leider nur zeitlich begrenzt) wegzukommen, hab ich trotzdem geschafft - dank einer neuen Arbeit, eines neuen Umfeldes und neuer Freunde. Wir chatteten oder hatten über WhatsApp teils mehrere Stunden täglich Kontakt. Das war erstmal vorbei und eine gewisse Entspannung trat bei mir ein, weil damit auch das unerträglich hohe Streitpensum auf Null sank. Ich versuchte, mich zurückzunehmen. Meine Erwartungen an ihn, an ein UNS waren bei Null. Ich suchte von mir aus keinen Kontakt mehr zu ihm. Mir fiel auf, dass mir das - wie gesagt, dank des Umfeldes - überhaupt nicht schwerfiel. In all den Jahren hatte sich das Verhältnis zu meinen Eltern im Übrigen nicht verbessert. Es war auf einem konstant niedrigen Niveau, was emotionales Miteinander, Unterstützung, Trost etc. anging. Sie legten keinen Wert auf meine Anwesenheit - ich nicht auf sie.
ER, der mir vor Beginn meiner neuen Arbeit immer vorwarf, mich zu sehr an ihn zu klammern, was er nicht wolle und nicht (aus seiner Sicht) so sein dürfe, suchte in den folgenden Jahren regelmäßig den Kontakt zu mir. Hab seinen Kontakt nicht blockiert. Nach ein, zwei Wochen schickte er immer wieder eine nichtssagende Mail oder eine WhatsApp. Offenbar wollte er Aufmerksamkeit. Lapidare Nachfragen, wie es mir so gehe, beantwortete ich kurz; manchmal erst Tage später, weshalb er öfter nachfragte, richtig nachbohrte. In der Zeit versprach er wieder einiges. Er hielt es nicht. Meine Enttäuschung hielt sich in Grenzen, denn nicht zustande kommende Treffen etc. pp kannte ich schon. Er gab mehrmals vor, Treffen zu wollen, aber als ich nach einem Zeitpunkt fragte, wurde er ausweichend. Dann gab er alles Mögliche an. Die kranken Eltern, Hausbau der Kinder, eigene gesundheitliche Probleme. Für vieles hatte ich Verständnis. Leider bekam ich zuletzt immer mehr das Gefühl, dass selbst Unwichtiges (aus meiner Perspektive) wichtiger war als ich.
Die Jahre plätscherten so hin. Ich bilde mir ein, immer wieder bemerkt zu haben, wie er um meine Aufmerksamkeit buhlte. Erst wollte er sie unbedingt, dann wieder nicht. On-Off. Aufgrund seines Alters traute er sich das Autofahren über lange Strecken nicht mehr zu. Er stellte Treffen in Aussicht, unterstrich sein Wollen und gleichzeitig fehlendes Können. Das sei (für ihn) alles zu umständlich, zu kompliziert. Ich könne ihn ja besuchen. Freilich nicht im trauten Heim, sondern irgendwo outdoor. Daran hatte ich kein Interesse. Mir wurde bewusst, dass ich ihn als guten Freund nicht mehr missen möchte. Aber die Verlustangst aus den Vorjahren war wie weggeblasen. Meine bloße Freundschaft wollte er offenbar nicht. Im Alter würden die Freunde weniger, sagte er. Welch dämlicher Spruch. Was er wollte? Vielleicht eine Rückkehr zu einer Art intimen Online-Rollenspiel. Sagte ihm klar, dass ich das weder wolle und brauche, wenn er mich nur als dieserart Ablenkung betrachtet. Er betonte, dass dem nicht so wäre. Ich glaubte es. Mal wieder.
Bei meinem relativ stabilen Gemütszustand blieb es leider nicht. Vor gut zwei Jahren gab es einen großen Eklat mit meinen Erzeugern und deren überzeugten Mitläufern. Das artete nicht nur in körperlicher Gewalt mir gegenüber aus, sondern mir wurde von jetzt auf gleich unter anderem mein Auto - ich brauche dringend eines, um meinen Job zu machen - entzogen. Man brauchte offensichtlich nach einem aufgebrauchten Erbe Geld und so haben die eigenen Erzeuger heimlich mein Auto verkauft und, wie ich wenige Tage später feststellen musste, alle meine Ersparnisse der vorangegangenen zehn Jahre von meinem Konto abgehoben. Nachfragen bei meinen „Eltern“ haben nichts gebracht. Sie haben sich dumm gestellt. Das tun sie im Übrigen bis heute. Nachforschungen und Beschwerden bei der Bank ergaben, dass sie meine Unterschrift gefälscht haben mussten. Die Bank zeigte mir Nachweise, dass das Geld auf andere Konten transferiert wurde. Aus Sicht meiner Bankbetreuerin lief das alles legal ab. Da könne man nichts machen, hieß es. Ich fiel aus allen Wolken.
Ich stand da - ohne finanzielle Reserven, ohne Auto, und auch ohne Rechtschutzversicherung. Es war der Moment, wo ich - trotz jahrelanger Beziehung, die ich inzwischen zu einem gleichaltrigen Mann aufgebaut hatte - auf IHN zurückfiel. ER hatte doch immer geholfen, wenn ich in Not war und damals war ich in sehr großer Not. Ich verfiel wieder ins Denken, er sei mein Ersatzvater, er würde sich kümmern. Ich meinte, er müsse sich um mich kümmern, weil er doch versprach, für mich da zu sein. Naiv, ich weiß. Die Hoffnung war groß - genau wie die Enttäuschung, dass er nicht half (im finanziellen Sinn). Freunde wollten mir helfen, obwohl es finanziell sehr knapp war bei ihnen. Das Geld hab ich ausgeschlagen. Ich wollte, dass ER hilft. Das würden Freunde füreinander tun, redete ich mir ein. ER sagte, seine Frau wisse nichts von mir und nun könne er als inzwischen Rentner nicht einfach einen Kredit aufnehmen. Erschwerend kam leider hinzu, dass die Autopreise damals bereits exorbitant hoch waren für Gebrauchte und ich keinen Kredit bekommen habe, weil ich mich gerade zu dieser Zeit in der Probezeit eines neuen Jobs befand. Und obwohl kein einziger Tag Arbeitslosigkeit zwischen meinen Anstellungen lag, bekam ich keinen Kredit. Ich könnte nach erfolgreich bestandener Probezeit nochmal nachfragen, sagte mir meine Bank. Nun gut, das hätte drei Monate ohne Fahrzeug bedeutet. Ich kann leider in meinem Job nicht mit Bus und Bahn zu den Zeiten an den Arbeitsorten sein, die von mir verlangt werden. Von daher war ÖPNV keine Lösung. Nachdem auch ER mir keine finanzielle Unterstützung geben konnte, bat ich ihn, mit meinen Eltern zu sprechen, um ihnen ins Gewissen zu reden. Er sagte, sie würden ihn nicht kennen und so bringe das nichts. Mein Freund und ich haben ja selbst mit ihnen zu reden versucht, aber nichts erreicht.
Mit diesen Problemen an den Hacken fing ich wieder an, zu klammern. Ich bat ihn um Gespräche, um Treffen, doch je mehr ich klammerte, umso mehr Distanz baute er wieder zu mir auf. Er brauche seine Ruhe, sagte er häufig. Doch als er sie hatte, schrieb er mich doch immer an. Mit meinen Problemen sei ich einfach nur chaotisch, meinte er. Ich hab mich so verletzt gefühlt. Der, der doch da sein sollte für mich; den, den ich anhimmelte, wollte mit dem aus seiner Sicht personifizierten Chaos nichts zu tun haben. Irgendwann haben sich die gröbsten Probleme aufgelöst. Ich wurde wieder ruhiger. Ich schlug ihm vor, dass wir uns in seiner Gegend treffen können - er provozierte daraufhin oftmals einen Streit. Ausreden über Ausreden. Die Streitereien nahmen zu. Es war unerträglich und wir beide einfach ungenießbar. ER stellte Spielregeln für Treffen in seiner Nähe auf (bei denen es nicht und nie zum Äußersten kam). Hielt ich sie nicht ein, war zu spontan, hatte er eine gefundene Ausrede, um abzusagen. Beugte ich mich seinem Willen, hat er meist eine andere Ausrede gefunden. Treffen gingen nicht, Telefonate waren auch vom Tisch, aber mit WhatsApp-Nachrichten konnte er mich bombardieren bis zum Geht-nicht-Mehr. Er begründete Absagen in der letzten Zeit damit, dass seine Frau oder Bekannte mit mir sehen könnten. Man würde Fragen stellen. WIE würde das aussehen, warf er mir vor. Hätte uns jemand gesehen, wäre für ihn die absolute Katastrophe gewesen. Es läuft doch nichts zwischen uns; es geht doch nur um einen Kaffee, versuchte ich, ihn in seiner Anspannung runterzuholen. Doch da war nichts zu machen. ER hatte seine Meinung und ich eben meine. On-Off-Phasen folgten. Mal suchte ich den Kontakt, weil mich die Sehnsucht zu ihm „spülte“, mal schrieb er mich an und gab nicht nach, bis er Antwort von mir hatte. Danach versuchte er mich wieder in ein Gespräch/einen Chat zu verwickeln. Die On-Off-Phasen wurden durch heftige Auseinandersetzungen eingeleitet. Jedes kleine Fünkchen löste eine Explosion aus. Nächtelang hab ich durchgeweint, hatte Herzrasen, Schlafstörungen. ER konnte so barsch sein. Sagte ihm, dass ich keinen Kontakt zu jemandem halten werde, der offenbar Angst vor mir hat und mir keine privaten Nachfragen mehr beantworten könne. Danach: Funkstille. Zwei, drei Wochen später schlug er wieder mit Engelszungen zarte Töne an. Er entschuldigte sich für sein Verhalten und geriet ins Schwafeln über eine gemeinsame Zukunft. Ich wollte MEINE Ruhe. Er wollte sich dann unbedingt treffen. Konnte nicht widerstehen und sagte zu. Die Treffen waren ok. Wir haben gesprochen. Sagte, es belastet mich, dass er so ein Geheimnis um mich vor seiner Frau macht. Er ignorierte es.
Das letzte Kapitel: Meinen Wunsch ließ er unbeachtet. Die Streitereien nahmen ab, aber nur, weil ich wieder auf Abstand ging. Ich versuchte, mich selbst zu disziplinieren. Aber nicht selten war mein Herz schon nach wenigen seiner Nachrichten entflammt. Ich dachte, dass ich nach 18 Jahren nicht mehr so auf ihn „ansprechen“ würde; irrte mich aber regelmäßig. Ich hatte ihn zwischenzeitlich immer wieder auf digitalen Kanälen blockiert, es aber nie dauerhaft durchgehalten. Im Juni hatte ich Urlaub. Er preschte vor, wollte ein Treffen; nannte einen Zeitraum. Er richte sich nach mir. Ich hatte den Verdacht, dass es nichts wird. So bin ich nicht weiter drauf eingegangen. Ich musste mein Herz davon abhalten, sich erneut in unnütze Hoffnungen zu stürzen. Das hat mich genug Kraft gekostet. Ich hatte dem Treffen nicht direkt zugestimmt. Mit einer Absage kam er mir zuvor – es war diesmal ernster. Er sollte einen Stent am Herzen bekommen. Das funktionierte nicht. Als Risikopatient habe er im Krankenhaus bleiben müssen. Er sollte umgehend Bypässe bekommen. Die Situation war sehr ernst, wie er mir versicherte. Ich zweifelte keine Minute an der Wahrheit seiner Worte. Ich machte mir riesige Sorgen um ihn. Kein Wort des Streits. Ich wollte mich einerseits nicht aufdrängen, andererseits hätte ich ihn gern persönlich Glück gewünscht und ich hätte gern vor der OP gesehen (danach natürlich auch). Aber das lehnte er ab. Frau und Kinder kamen wohl täglich ins Krankenhaus. ER wolle „keine Verwicklungen“. Wieder musste ich schlucken. Er hatte Angst vor der OP, was ich verstehe. Nur deshalb fing er wieder mit Schwafeln an. Sprach von seiner „Einsicht“, bei mir sein zu wollen und Fehlern der Vergangenheit, die er nicht mehr ändern könne. Das wolle er in Zukunft besser machen. So nicht, mein Lieber, dachte ich mir. Wären es ehrlich gemeinte Worte gewesen, hätten wir uns sehen können. Er meinte, ich rege seinen Blutdruck auf, wenn ich käme. Das könne er nicht ertragen. Parallel konnte er mich bis zur OP aber sehr wohl mit Nachrichten zuspammen. Das für mich Schlimmste aber: Er lehnte nicht nur ein Treffen ab. ER lehnte mich ab. So kam es mir zumindest vor. ER sagte mir nicht einmal, in welchem Krankenhaus er liegt und auf welcher Station. Er sagte, er wolle verhindern, dass ich ihn anrufe oder besuche. ER zeigte mir damit nur einmal mehr, dass er mir keinen Millimeter vertraut. Darum hat er vor der eigentlichen OP, wie er es nannte, „Sicherheitsvorkehrungen“ getroffen – die bestanden darin, seine mir bekannten Mailadressen zu löschen, meine Nummer in WhatsApp zu sperren, dann aus dem Handy zu löschen. Klar, doppelt hält besser. ER wolle damit verhindern, dass ich eine Nachricht schickte, die dann (im schlimmsten Fall) seiner Familie in die Hände falle. Ich war und bin immer noch fürchterlich verletzt deswegen, hab mich aber zusammengerissen, keinen Streit vom Zaun gebrochen. Mehr als Hinnehmen konnte ich in diesem Moment nicht. Meinem Versprechen, er könne mich darum bitten und ich würde mich daran halten, akzeptierte er nicht. Zu unsicher, für ihn, sagte er. Kurz vor einer so schweren OP noch so berechnend zu sein, schockierte mich ehrlich gesagt etwas. Wenn ich nichts mehr von ihm höre, hätte ich es nicht geschafft, hieß es. Tage später nach der OP gab er ein Lebenszeichen von sich. Er braucht Ruhe, noch mindestens einen Monat. Den will ich nutzen, um nun endlich und endgültig den Absprung zu schaffen. Dieses Kalkül, mich derart aus seinem Leben auszuradieren, als wäre ich ein 19 Jahre langer Geist gewesen, verdeutlichte mir nochmal deutlich, dass er offenbar nicht imstande ist, eine Freundschaft zu führen.
Ich weiß nicht, was ich in dieser Situation erwartet habe oder überhaupt als offenbar Willenlose hätte erwarten können – das, was er abgezogen hat, hat dem Ganzen allerdings die Krone aufgesetzt. Seine Reaktionen bestätigt mich darin, dass er sich nie ändern wird. Ich hingegen weiß, dass ich etwas tun muss gegen meinen Vaterkomplex. Trotz der langen Zeit spüre ich keinen Hass mehr, sondern vielmehr Gleichgültigkeit. Eine gewisse Sympathie für ihn aus der Zeit, in der mich mit seinem Wissen und Co. Unterstützt hat, lässt sich trotzdem nicht „ausrotten“.
So, jetzt ist erst einmal alles runter von der Seele.
17.07.2024 20:10 •
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