Vergeben lernen
Wir hatten wieder einmal ein köstliches Stück Krokodilschwanz bekommen; Papa hatte es gegen einen Topf eingetauscht. Das Wasser lief uns schon im Mund zusammen. Wir zündeten hinter unserem Haus ein Feuer an und legten das Fleisch auf dem Holzgestell über die Flammen, um es zu räuchern. Einige Stunden würden wir noch warten müssen, bis wir es genießen konnten.
Mama war hinten im Haus und wollte etwas holen. Zufällig fiel ihr Blick aus dem Fenster, von wo aus man das brutzelnde Fleisch sehen konnte.
Da plötzlich kam ein halbwüchsiger Fayu aus dem Urwald, der Sohn von Häuptling Baou. Er schaute sich vorsichtig um und schlich sich langsam zum Feuer. Natürlich hatte er Mama nicht gesehen, die alles vom Fenster aus beobachtete. Blitzartig schnappte er sich ein Stück Fleisch und wollte damit abhauen.
Mama war völlig perplex und rief laut:Hey!
Der Junge sah sich erschrocken um, warf das Fleisch wieder zurück auf das Holzgestell und rannte in den Urwald.
In kürzester Zeit wussten alle, dass jemand uns etwas stehlen wollte. Häuptling Baou hatte seine Hütte ungefähr dreihundert Meter von unserem Haus entfernt im Urwald gebaut. Wir hörten seine Schreie, als er erfuhr, was sein Sohn getan hatte. Denn nach Fayu-Bräuchen war Papa jetzt berechtigt, die Tat zu rächen. Häuptling Baou bangte um seinen Sohn, sah ihn schon als verloren an.
Wir hingegen saßen an unserem Holztisch und überlegten, was wir am besten tun sollten.
Da sagte Mama: K.l.a.u.s, weißt Du was, in der Bibel steht schließlich, wenn jemand Dir was wegnimmt, dann gib ihm noch etwas dazu. Hier ist ein schönes Stück Krokodilfleisch - warum bringst du es nicht einfach dem Häuptlingssohn und sagst ihm, dass wir nicht böse auf ihn sind?
Wir nickten und fanden die Idee gut. Gerade hatten uns andere Faya erzählt, dass der Junge sich im Urwald versteckte, in panischer Angst vor seinem Vater und vor uns, denn er wusste nicht, was wir mit ihm vorhatten.
Papa ging los, ich folgte ihm. Wir schlenderten den kleinen Urwaldpfad hinunter bis zu Häuptling Baous Hütte. Die ganze Familie saß dort zusammen, und als sie uns sahen, kam Unruhe auf. Papa fragte Häuptling Baou, wo sein Sohn sei, er wollte ihn sprechen. Ich schaute dem Häuptling ins Gesicht; nie hatte ich diesen mächtigen Mann so traurig gesehen.
Der Sohn trat langsam aus dem Urwald. Er zitterte am ganzen Leibe, hatte wahnsinnige Angst. Papa ging auf ihn zu und tat nun das, was keiner erwartete: Er nahm den jungen Fayu in den Arm, sagte ihm, dass er nicht böse sei, und um dies zu beweisen, habe er ihm ein großes Stück Fleisch mitgebracht. Die ganze Familie starrte Papa verständnislos an. Keiner wusste, was er sagen oder tun sollte. Der Sohn nahm das Fleisch und verschwand wieder im Wald.
In diesem Augenblick änderte sich etwas im Herzen von Häuptling Baou. Dieser Mann hatte niemals Gnade oder Vergebung gekannt und war durch seine unvorstellbare Brutalität zum gefürchtetsten Krieger unter den Stämmen der Umgebung geworden. Was der weiße Mann tat, war ihm vollkommen fremd. Doch es war eine Geste, die später dazu führte, dass Häuptling Baou zum Friedensträger wurde. Er schaute Papa an, Tränen in den Augen. Keiner sagte ein Wort. Als wir wieder zum Haus zurückkehrten, wurde mir einmal mehr Papas Lebensprinzip klar, das Grundprinzip seiner Arbeit: das Liebe stärker ist als der Hass und das wir nicht durch große Worte, sondern nur durch unsre Lebensweise, unser eigenes Verhalten, die Herzen dieser Menschen ändern können.
Wie ich so hinter ihm herlief, wurde mir bewusst, dass ich gerade etwas ganz Besonderes erlebt hatte. Nur eine kleine Geste - aber für dieses vergessene, von Hass und Vergeltung geprägte Volk war es ein Schritt auf dem Weg zum langersehnten Frieden.
Viele Rückschläge gab es noch durch die Jahre. Vergebung und friedlichen Umgang kann man nicht von einem auf den anderen Tag lernen. Heute jedoch leben die Fayu in Frieden, abgesehen von den Konflikten, die es überall gibt, wo Menschen zusammenleben. Doch sie haben gelernt, diese Konflikte anders zu bewältigen und gemeinsam Lösungen zu suchen.
Es war nicht immer leicht, und es gab Tage, an denen nicht nur wir, sondern auch die Fayu entmutigt und niedergeschlagen waren. Sie gaben aber nicht auf: Sie waren ein Volk, das ein gemeinsames Ziel gefunden hatte und gemeinsam kämpfte, um dieses Ziel zu erreichen.
Es war auch nicht das letzte Mal, dass die Fayu uns etwas stahlen. Jedes Mal, wenn wir aus Danau Bira zurückkehrten, fehlte ein Teil unserer Sachen, die wir im Haus zurückgelassen hatten. Tief im Dschungel Ersatz zu finden war langwierig und oft unmöglich. Es war eine schwierige Situation für Mama und Papa. Immer von neuem hofften sie, dass sich die Faya ändern würden, immer wieder mussten sie enttäuscht feststellen, dass es - noch - nicht der Fall war. Doch meine Eltern hielten durch.
Manchmal hatte es ja auch seinen Reiz, wenn ein Häuptling oder Krieger plötzlich in Mamas Unterhose herumlief oder den Schlüpfer als Hut auf dem Kopf trug. Die Fayu stahlen übrigens mit Leidenschaft die Nägel aus Papas Handwerkszeug. Papa wunderte sich immer, was sie wohl damit anfingen. Eines Tages sahen wir es: Sie benutzten sie als Nasenschmuck!
Nicht lange nach der Begebenheit mit Häuptling Baous Sohn passierte wieder etwas. Papa war mit seinem Boot gerade aus dem Dorf Kordesi zurückgekehrt, wohin uns ein Flugzeug wichtige Waren aus der Hauptstadt geliefert hatte. Dazu gehörte auch ein neuer blauer Plastikeimer, den wir dringend brauchten, zum Wasserholen, Wäschewaschen und vielem mehr. Mama konnte es kaum erwarten.
Ein junger Fayu-Mann war zum Boot gekommen und fing an zu betteln. Er wollte ein Messer haben, doch Papa hatte keins mehr und bat ihn zu warten, bis er neue bekam. Der junge Mann drehte sich um und ging davon. Er war wütend, und nach einigen Metern blieb er abrupt stehen, hob einen Stein auf und warf ihn mit voller Wucht auf Papa. Der Stein verfehlte meinen Vater gottlob. Doch stattdessen traf er den neuen blauen Eimer und zerbrach ihn. Das war zu viel selbst für Papa. Er kochte vor Wut und rannte hinter dem jungen Mann her, wollte ihn zur Rechenschaft ziehen, konnte es einfach nicht fassen, dass dieser lang ersehnte Eimer schon wieder kaputt war.
Noch im Laufen bemerkte er, dass alle Fayu in ihren Tätigkeiten innehielten und ihn beobachteten. Sie dachten wohl gespannt bei sich:Schaut euch den Klausu an. So wild haben wir ihn ja noch nie gesehen. Er wird jeden Moment explodieren.
Papa hatte den Fayu-Jungen fast eingeholt, da ging eine plötzliche Veränderung in ihm vor. Die Wut verschwand, und etwas wie Ruhe trat an ihre Stelle. Es war ein Geschenk des Himmels, wie Papa mir später erzählte. In diesem Moment wurde ihm bewusst, was Vergebung wirklich bedeutet.
Als es den Jungen endlich erreicht hatte, fasste er ihn freundschaftlich am Arm und rieb seine Stirn an der des anderen - das Fayu-Zeichen für Verbundenheit. Die Fayu-Zuschauer blickten erstaunt und überrascht. Wieder hatten sie ein zunächst unfassbares Beispiel für Vergebung erlebt.
Diese Geschichte bringt mich jedoch noch auf meine Mutter. Ich weiß nicht, ob man die Wichtigkeit eines Eimers im Dschungel ermessen kann, wenn man in der Sicherheit aufgewachsen ist, dass alles schnell ersetzbar ist. Ein Eimer ist nur ein Eimer. Doch stell die vor, du lebst im Dschungel, hast kein Wasser mehr in der Regentonne, kannst die Toilette nicht spülen, musst alles Wasser vom Fluss zum Haus transportieren. Du musst deine Kleidung waschen, Essen wie Süßkartoffeln oder Ähnliches zum Fluss tragen, um es zu waschen, und so weiter. Alles wird einfacher mit dem Eimer. Und jetzt hast du diesen kostbaren Gegenstand verloren, bevor du ihn überhaupt nutzen konntest. Wieder hieß es improvisieren und andere Lösungen finden, um den Alltag zu meistern.
Es war nicht einfach für jemanden wie meine Mutter, die in Deutschland aufgewachsen ist und dann mit solchen Gegebenheiten fertig werden musste. Ich bewundere sie und habe großen Respekt vor der Gelassenheit, mit der sie unser Leben zusammenhielt, und auch davor, dass sie niemals wütend oder frustriert war, wenn etwas nicht klappte. Wie schwer muss es in diesen Jahren gewesen sein, das ständige Stehlen ohne zu klagen über sich ergehen zu lassen!
Während des Geschehens stand Christian neben mir und sagte: Ein Glück, dass du den Eimer nicht kaputtgemacht hast, du wärst in viel mehr Trouble gewesen. Ich nickte und war froh darüber, dass ich zufällig einmal nicht der Übeltäter war.
Als wir das nächste Mal nach Danau Bira mussten, baute Papa vorher eine geheime Kammer ins Haus ein, um dort unsere Sachen zu verstecken. Er hoffte, dass die Fayu diesen Raum, den er mit Brettern zunagelte, um ihn wie eine normale Wand aussehen zu lassen, nicht finden würden.
Darin hatten wir alles in großen blauen Plastiktonnen verstaut, um es vor de Tieren zu schützen.
Doch als wir wiederkamen, war die Wand aufgebrochen. Mama und Papa waren so entmutigt, wussten einfach nicht mehr weiter. Wir saßen am Holztisch und keiner sagte ein Wort. All unsere Bettwäsche, alle Kleidung, Küchenbesteck, Töpfe, Handtücher, Seife, einfach alles war weg. Wir hatten nur noch das, was wir im Gepäck mit uns führten.
Plötzlich klopfte es leise an unsere Tür. Papa öffnete, und Nakire stand vor ihm. Psst, Klausu, komm mit, raunte er.
Wir folgten ihm alle nach draußen. Dort standen mehrere Fayu vom Iyareki-Stamm. Als sie uns sahen, verschwanden sie mit Nakire im Urwald, doch wir sollten warten. Gespannt standen wir vor unserem Haus und harrten der Dinge. Da hörten wir ein Rascheln, und vor unseren Augen brach Nakire mit den Männern durchs Gebüsch, jeder mit einer unseren blauen Tonnen vor sich, all den Sachen, die wir verloren geglaubt hatten. Papa konnte es kaum fassen.
Nakire erklärte ihm stolz, dass die anderen Fayu-Stämme die Tonnen klauen wollten, doch er sei ihnen zuvorgekommen und habe alles im Urwald verteckt. Wir waren so glücklich. Dies war das erste Mal, dass die Fayu etwas taten, das nicht ihrer Denkweise entsprach. Für uns war es ein kleines Wunder.
Nach und nach wurde immer weniger bei uns eingebrochen. Dann hörte es eines Tages ganz auf. Und dann, wir waren gerade einmal wieder aus Danau Bira zurückgekommmen, hörten wir draußen Stimmengewirr. Wir sahen nach, was los war, und da kamen sie, die Männer der vier Fayu-Stämme: die Iyarike, die Sefoidi, die Tigre und der Tearü-Stamm.
Sie stellten sich fast bis zum Ufer in einer Reihe auf und kamen dann einzeln zu uns. Zu unserer größten Überraschung legten sie auf unsere Veranda alles, was sie uns jemals gestohlen hatten: Töpfe, Kleidung, Messer, Löffel, Teller, Boxen, Fischhaken, Bänder und so weiter. Und ganz vorne stand Häuptling Baou.
Obwohl das meiste in einem so schlechten Zustand war, dass wir es nicht mehr gebrauchen konnten, freuten wir uns riesig. Dieser Moment war ein besonderer für uns. Angeführt von Häuptling Baou hatten alle Fayu gemeinsam als Volk die Entscheidung getroffen, nicht mehr vom weißen Mann und seiner Familie zu stehlen.
(aus Dschungelkind Sabine Kuegler)
31.08.2015 16:19 •
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