Du bist mir kein Zuhause mehr.
Das Haus, welches wir geteilt haben, steht nun leer. Du hast das warme Nest verlassen und bist in ein neues gezogen. Dein Türschild hast du mitgenommen, nachdem ich es dir wutentbrannt hinterhergeschmissen hatte. Noch lange stand ich an der Tür, habe gelauscht, wie deine Schritte verhallten und versucht, deine Silhouette im Gegenlicht auszumachen. Irgendwann konnte ich nicht mehr unterscheiden, ob du es bist oder bloß ein großer Vogel, auf der Suche nach Beute, seinen natürlichen Instinkten folgend.
Wochenlang habe ich noch in diesem verlassenen Heim gesessen, die weißen Wände angestarrt und gezögert, die Schlösser auszutauschen, weil du vielleicht zurückkommen könntest.
Ich bin tagsüber durch die Räume geschlichen und habe das Lachen gejagt, das kichernd hin und her wirbelte und abends zu mir unter die Bettdecke kroch. Ich habe es weggestrampelt, mir die Haare gerauft, kein Auge zugetan und vor Mutlosigkeit geweint.
Ich bin über Scherben gelaufen, die den Fußboden eines jeden Raumes bedeckten und habe mir daran die Füße aufgeschnitten. Ich stand oft mit einem Besen davor, voller Elan diesen ganzen Dreck endlich zusammenzukehren und verharrte doch in dieser Position. Ich starrte auf das Elend zu meinen Füßen, beweinte die schönen Dinge, die nun alle zerbrochen waren und sank zu Boden, im verzeifelten Versuch, die kleinen Splitter wieder zusammenzufügen.
Mit blutigen Händen habe ich darin gewühlt.
Manchmal habe ich dich dabei angeschrien und gefleht: So hilf mir doch! Das passt alles nicht zusammen!
Doch du hast nur gesagt: Ich kann das nicht.
Da habe ich dich hochgehoben und auf meinen Rücken gepackt. Mit deiner Last auf den Schultern habe ich mich gezwungen, meinem Alltag nachzugehen. Ich habe dir über die Stirn gestreichelt, deine Wunden so gut es ging versorgt und dich spüren lassen, dass meine Liebe auch in den schwärzesten aller Momente noch da sein wird.
Doch irgendwann wurdest du zu schwer. Ich konnte uns beide nicht gleichzeitig tragen. Das Gewicht erdrückte mich, deine Arme nahmen mir die Luft zum Atmen und meine eigenen waren zu schwach, um dich länger zu halten. Ich wollte dich absetzen. Doch du hast nur gesagt: Trag mich, so trag mich doch, ich kann nicht gehen!
Und ich sagte: Du musst es versuchen. Wenn du nicht versuchst, aus eigener Kraft zu gehen, wirst du niemals mehr gehen.
Du bist zusammengesunken und hast geweint, so allein, so verlassen und so ungerecht behandelt von aller Welt.
Ich habe dich angesehen, viele Minuten, ganze Stunden und Tage. Dann habe ich mich abgewandt und die Tür hinter mir geschlossen. Ich habe den Besen genommen und alle Ecken des Hauses ausgekehrt. Da saß die Liebe zusammengekauert im hintersten Winkel des Wohnzimmers. Sie schaute mich an und fragte: Hast du mich vergessen?
Da stand die Einsamkeit im Bad und sagte: Ich gehe hier nicht weg!
Im Bett lag das Begehren und hauchte provozierend: Schau her, erinnerst du dich? Nein? Na, dann schau doch mal, wo ich jetzt gelandet bin!
Auf dem Balkon lachten mich all die Sommerabende an und säuselten voller Selbstverliebtheit: Schau doch nur, wie schön wir sind!
Sie alle habe ich zusammengekehrt - nur die Einsamkeit, die blieb tatsächlich, wo sie war. Ich habe an ihr gezerrt und gezogen, doch sie bewegte sich keinen Zentimeter, also ließ ich sie stehen, wo sie war.
Als ich mit allem fertig war, stand ich im Flur und blickte ein letztes Mal zurück. Dieses Haus ist mir so fremd geworden. Es ist nicht mehr mein Zuhause und doch tut es weh, alles zurückzulassen. Draußen wartet nicht viel und die Angst kriecht mir im letzten Moment den Rücken hoch.
Ich lasse den Kopf hängen und während ich so verloren dastehe, spüre ich sanft eine Hand in meinem Nacken.
Es ist der Aufbruch, der als letzter übrig geblieben ist. Unauffällig steht er im Flur und sagt mit sanfter Stimme: Komm, wir müssen gehen. Alles, was hier einmal war, ist nicht mehr da. Dein Zuhause bist jetzt du.
Vorsichtig schiebt er seine Hand in meine und zieht mich behutsam nach draußen. Ich wehre mich nicht, lasse mich von ihm fortziehen. Immer weiter, fort, nur fort.
Dieses Haus, welches wir geteilt haben, steht nun leer. Manchmal drehe ich mich auf meinem Weg um, meistens dann, wenn die Füße schmerzen und meine Kraft nachlässt. Dann setze ich mich hin und schaue zurück. Irgendwo dahinten steht ein Haus. Ich kneife die Augen zusammen und versuche seine Form zu erkennen. Doch manchmal weiß ich nicht, ob es wirklich noch das Haus ist oder längst eine Ruine. Der Putz bröckelt, die Dachpfannen rutschen ins Gras, die Fenster sind zerbrochen. Der Wind fegt die letzten Staubflusen aus den Ecken und verstreut sie in alle Richtungen.
Es macht mich traurig, wenn ich sehe wie schnell etwas zerfällt, was einmal so stark war.
Der Aufbruch drängelt, er möchte weitergehen. Ich vergrabe meine Hände ein letztes Mal in der weichen Erde und fühle, wie sehr meine Haut diese Berührung in sich aufnimmt. Ich atme tief ein und aus.
Dann stehe ich auf und drehe mich um. Dort sehe ich den Horizont. In der Ferne fliegt ein Vogel, seinen Instinkten folgend. Frei.
22.07.2012 13:35 •
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