@prisma
Dein Argument ist sicher auf den ersten Blick richtig: Wenn jemand nie ein eigenes Selbst entwickelt hat, gibt es auch nichts auszugraben. Aber wenn man etwas tiefer blickt, dann sieht das schon etwas anders aus. Denn daß jemand gar kein Selbst entwickelt hat, kommt ja nicht vor. Was allerdings sein kann, ist natürlich, daß dieses entwickelte Selbst an allen Ecken und Enden verbeult und verbogen ist, daß manches gewaltig überentwickelt ist, während anderes kaum oder gar nicht entwickelt ist. Es ist dann, als würde man das eigentliche Selbst wie durch eine ganz verrückt und chaotisch geschliffene Linse betrachten und sieht daher nur diese Zerrbilder. Aber das bedeutet durchaus nicht, daß dahinter kein tieferes Selbst läge, dieses eigentliche Selbst, das eben nicht so verzerrt und verbogen ist, daß es irgendwie nicht so recht in die Welt passen will oder man selber davon geplagt wird. Und auch ist es nicht so, daß man die Dinge nicht wieder halbwegs gerade biegen könnte, nicht Überschießendes abbauen und zu wenig Entwickeltes zum Wachsen bringen könnte.
Das Erste, was man aber natürlich erkennen muß, ist, daß es sich dabei um etwas Verzerrtes und Verbogenes handelt und nicht um das, was ihm zugrunde liegt. Gerade das aber hast Du ja schon gemacht.
Es geht nun also darum, daß Du ein Übermaß an diesem und ein Mindermaß an jenem wieder ins Gleichgewicht bringst, das eine zurückschraubst, das andere wachsen läßt. Im Grunde geschieht das so gut wie von selber - wenn man es zuläßt und nicht aus falschen Gründen an Falschem festhält und ein paar Impulse setzt, die in die richtige Richtung führen.
Ein bißchen etwas scheint bei Dir ja bereits in Bewegung geraten zu sein. Verfolge das einfach weiter und lasse Dich von Deiner Intuition leiten. Die weiß noch immer am besten, wie Du Dein Selbst, dieses eigentliche Selbst, das man sich vorstellen kann wie ein Samenkorn, was immer dann daraus auch gewachsen sein mag, wiederfinden und zum Wachsen bringen kannst. Man bekommt ja viel mehr mit für das Leben, als man überhaupt weiß, und dieses eigentliche, eingeborene Leben wird auch zeitlebens nach Verwirklichung streben. Wie der Grassamen, auch wenn er unter Beton begraben liegt.
Es ist ja auch nicht so, daß dieses Selbst, ob es nun das echte oder das angezüchtete ist, so unveränderbar wäre. So ist es nämlich durchaus nicht. Das ist so plastisch und veränderlich wie das Gehirn. Etwas Statisches gibt es in Wahrheit auch gar nicht, wenn man sich nicht selber dazu zwingt.
Wenn z. B. jemand in eine fremde Kultur auswandert und sich nicht ghettoisiert, sondern offen ist, so wird sich auch sein ganzen Denken und Fühlen verändern, seine ganze Persönlichkeit, er wird sozusagen neu sozialisiert, fast wie ein Kind.
Und dasselbe geschieht, wenn Du Dich Dir selber öffnest.
Ich möchte auch noch kurz etwas anfügen zu dem Thema, ob man Gewissen aufbauen kann, auch wenn diese Frage nicht an mich gerichtet war. Aber ich glaube, das verdeutlicht, worum es geht.
Man darf Gewissen ja nicht als etwas Isoliertes sehen, das man auf- und abbauen könnte, wie man gerade will. Sondern Gewissen ergibt sich aus vielerlei komplexen Zusammenwirkungen, wobei Gefühle, Fühlen insgesamt wieder eine ganz wesentliche Rolle spielen. Wenn jemand fühlt, stellt sich das Gewissen geradezu unvermeidlich von selber ein. Zugleich wird es aber auch bestimmt von Gefühlen, die ein Gegengewicht darstellen. Ein halbwegs normal empfindender Mensch wird etwa unangenehme Gefühle entwickeln, ein schlechtes Gewissen, wie man sagt, wenn er einem anderen Schaden zufügt. Dem ist aber nicht so, wenn der Schaden, dem er einem anderen zufügt, einen Ausgleich darstellen soll zu einer Verletzung, die er selber erlitten hat, was man dann Rache nennt. (Und manche machen sogar ihr ganzes Leben zu einer einzigen Rache, wenn sie entsprechend verletzt sind.) Das geht im Extremfall sogar soweit, daß er nicht einmal ein schlechtes Gewissen entwickelt, wenn er einen anderen Menschen tötet, so er meint, dieser habe das ja verdient, auch wenn er ansonsten durchaus Gewissen hat.
Ebenso macht sich die Abhängigkeit des Gewissens vom Fühlen bemerkbar, wenn es um Identifikation geht. Einen anderen Menschen zu töten, wird nahezu jedem enorme Gefühle von schlechtem Gewissen bereiten. Bei Tieren ist das schon anders, und je weniger nahe sie dem Menschen artmäßig sind, um so weniger Identifikation es gibt, um so leichter fällt es auch, ein Tier zu töten, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Bei einem Hund, einem Reh, einem Schwein werden nur wenige, nur die verhärteten keine Regung verspüren, bei einer Fliege oder Spinne hingegen werden die meisten nicht mit der Wimper zucken und gar nichts verspüren, auch keinen Gedanken daran verschwenden, selbst wenn sie durchaus weichherzigerer, fühlenderer Art sind und nächtelang nicht schlafen können, wenn ihnen etwa ein Marder ins Auto gelaufen und umgekommen ist.
Oder auch bei schweren Psychopathen wie Massenmördern (wieder einmal) läßt sich ersehen, was es mit dem Gewissen auf sich hat. Bei solchen Massenmördern geht man ja davon aus, daß die völlig gewissenlos sein müssen und ja auch tatsächlich keinerlei Gewissensprobleme bekommen, wenn sie ihre Opfer foltern und töten. Und doch ist es nicht so, daß sie tatsächlich völlig gewissenlos wären. Sie sind es allerdings ganz ihren Opfern und Taten gegenüber, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie ihre Opfer wie Gegenstände erleben, wie ein Jäger ein Tier, an dem sie einfach ihr Lust ausleben, bei der es um nichts anderes als um Macht und Kontrolle geht, in dem Fall sogar um die Macht über Leben und Tod. Es fehlt schlichtweg die Identifikation mit dem Opfer bzw. zumeist fehlt es allein schon an der Identifikationsmöglichkeit, weil sie sich selber als quasi handelnde, agierende Gegenstände erleben. Und dann ist etwas wie ein Gewissen auch nicht vorhanden. Wie bei jemandem, der meinetwegen einen abgebröckelten Gartenzwerg in die Mülltonne wirft (wobei bei diesem allerdings nicht Lustgefühle, die Lust an Macht und Kontrolle der Antrieb zu dieser Tat sein werden).
D. h., alles in allem, Gewissen ist immer mit Fühlen verbunden, und wer ins Fühlen kommt, der baut ganz automatisch auch ein Gewissen auf.
Ja, auch das mit der übertriebenen Anpassung wird sich gewiß legen, wenn Du zu Deinem Selbst gefunden hast und dazu stehen kannst. Das sind Dinge, die sich ganz von selber ergeben, dazu braucht man sie gar nicht extra anzustreben.
Und es ist auch gut, daß Du hier nichts forcierst, sondern Du die Dinge sich einfach ruhig entwickeln läßt. Mehr ist auch gar nicht nötig. Bleibe einfach dran, achte auf Deine Intuition, laß Dich davon führen - und Du wirst nach und nach die Veränderungen merken, die dann auch nicht nur etwas Vorübergehendes sind, sondern sich auch festigen.
14.10.2017 02:41 •
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