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Kundalini
Maike124
Vivian
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Jay da B
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Vivian
InDenSternen
Zitat:Das Thema der Versöhnung
schlich sich vorerst leise in
mein Leben. Mit meinem Älter-
werden verdichtete sich die
Erkenntnis, dass die Versöhnung mit
der eigenen Biografie eine grosse Erneue-
rungschance ist. Meine Erwartung, das
Leben im Griff zu haben, zu wissen, was
zu tun ist und im Recht zu sein,
schwächte sich mit den Jahren ab.
Die Lebenslektionen bringen uns die
Grenzen des Machbaren bei. Wir können
nicht so viel dafür, und die anderen auch
nicht, und im Übrigen ist vieles von dem,
was uns in jüngeren Jahren furchtbar auf-
regte, nicht mehr so brennend wichtig.
Diese «Einstellungs-Veränderungen»
laden die Versöhnlichkeit ein. Zudem:
Wenn man jung ist, kann man Unauf-
geräumtes hinter sich lassen und weiter-
ziehen. Das wird später schwieriger. Das
mittlere oder höhere Alter findet oft in
den festen Mauern von erprobten Ein-
stellungen und lange gehegten Bezie-
hungsnetzen statt. In den Umständen fest-
geschraubt, entkommt man sich weniger.
Die Folgen eigener und fremder Handlun-
gen müssen ausgehalten werden. Die ver-
bleibende Lebenszeit schrumpft, und es
wird immer sinnloser, Unerledigtes mitzu-
schleppen.
Anstoss für einen Reifeschub
Dann schob mir eine persönliche Krise
das Versöhnungsthema resolut ins Be-
wusstsein. Ich geriet in Turbulenzen, die
meinen Versöhnungsbedarf stark erhöh-
ten und mir gleichzeitig jede Versöh-
nungsbereitschaft nahmen. Das Versöh-
nungsthema verwandelte sich von einem
Gegenstand theoretischer Überlegungen
in eine persönliche Herausforderung.
Nachdem Krisen bekanntlich Ent-
wicklungsanstösse sein können, schienen
die idealen Voraussetzungen für einen
inneren Reifeschub und ein Buch mit
dem Thema Versöhnung gegeben, sozu-
sagen als direkter Weg zur Erleuchtung.
Nun, es kam vorerst anders. Ich verlor
mich in Ideenskizzen und in den Massen
der Literatur über Versöhnung und damit
zusammenhängend über Ethik, und bei
mir persönlich wollte sich die weise
Milde der Versöhnlichkeit partout nicht
einstellen.
Und trotzdem – oder vielleicht gerade
deshalb – hielt mich dieses Thema gegen
alle Widerstände besetzt. Es blockierte
meinen Weg und verlangte imperativ, be-
handelt zu werden.
Das Versöhnungsthema liess mir keine
Ruhe, weder privat noch beruflich. Des-
halb kam mein Buch über Versöhnung
doch noch zustande. Nach wie vor bin
ich in vielem aber unversöhnt. Doch
stosse ich immer wieder auf Inseln der
Versöhnlichkeit, in mir und in andern –
und sie wachsen.
Der Alltag ist ein Abenteuer, bestehend aus vielen kleinen Erfolgen –
aber auch vielen Verletzungen. Um damit besser umgehen zu
können, hat die Psychotherapeutin Katrin Wiederkehr nicht zuletzt
aus persönlicher Betroffenheit das Konzept der «Versöhnung»
entwickelt.
Text:
Katrin Wiederkehr
Versöhnung
als Heilung
Der Körper will heil sein ...
Die Versöhnung heilt als alltägliches
Wunder die Beziehungsschäden, die das
Zusammenleben unweigerlich verursacht.
Wir erfahren Heilung am eigenen Leib.
Ein Schnitt verletzt die Haut. Es blutet.
Die Wunde reinigt sich.
Wir unterstützen diesen Heilungs-
prozess, indem wir das Blut stillen, die
Wunde desinfizieren und sie verbinden.
Es bildet sich eine Kruste. Unter ihr ent-
steht eine neue Haut, die die Kruste
schliesslich abstösst.
Wir kennen die chemischen und
physischen Vorgänge, die zur Heilung
führen. Auf dieser Ebene lässt sich die
Heilung erklären. Indessen greift eine
solche Erklärung zu kurz. Heilung ist
mehr als ein naturwissenschaftlich fass-
bares Phänomen. Der Körper will heil
sein. Er stellt die gestörte Ordnung wie-
der her. Diese Tendenz zur Funktions-
fähigkeit, zur Gesundheit und Ganzheit
setzt die physischen und chemischen
Prozesse der Heilung erst in Gang.
Dem Körper wohnt eine Heilkraft
inne, die gebrochene Knochen zusam-
menwachsen lässt, Verletzungen vernarbt
und Krankheiten besiegt. Diese Heilkraft
steht hinter und über dem, was wir mit
unseren Sinnen beobachten können.
. . . und die Seele auch
Analog dazu kann auch im seelischen Be-
reich von einer Selbstheilungskraft aus-
gegangen werden. Auch dort finden Hei-
lungsprozesse statt. Die Seele möchte heil
sein. Die heile Seele ist die liebesfähige
Seele, die Seele, die für die Liebe durch-
lässig ist. Der Mensch, nach dem Kampf
der Geburt in die Arme seiner Mutter und
an ihre Brust gelegt, ist zur Liebe gebo-
ren.
Die Einsamkeit der Feindschaft
spaltet ihn von seiner Urheimat der Ge-
borgenheit ab. Die Sehnsucht nach der
Liebe drängt ihn von der Feindschaft zur
Versöhnung.
Versöhnung und Liebe gehören zu-
sammen. Die Liebe will die Versöhnung,
und die Versöhnung bringt die Liebe zum
Fliessen. Die Verletzung der Seele setzt
einen Heilungsprozess in Gang. Die Ver-
söhnung mit sich selber und die Versöh-
nung mit den andern bringen die Hei-
lung.
Während die Versöhnung zwei Ent-
fremdete wieder zusammenführt, verän-
dert das Verzeihen einen einzelnen Men-
schen. Im Gegensatz zur Versöhnung ist
das Verzeihen als innerseelischer Prozess
nicht vom Verhalten eines anderen ab-
hängig.
Versöhnlichkeit ist die innere
Haltung, die das Verzeihen erlaubt.
Verzeihen bildet die individuelle Basis der
Versöhnung.
Vom Wert echter Versöhnung
Indessen steht der Heilkraft das lebens-
feindliche Destruktive gegenüber. Eine
Heilung wird dann notwendig, wenn eine
Verletzung geschehen ist.
In der Paarbeziehung ist es die Wunde des Liebes-
verrats, die einen Versöhnungsprozess
auslösen kann. Der Liebesverrat zerstört
die Behausung der Geborgenheit. Es gibt
so viele Arten, die Liebe zu verraten, wie
es Arten der Liebe gibt: unzählige. Der
Faden, an dem man nicht ziehen darf,
weil sonst die Maschen auseinander-
schlüpfen und das Ganze sich auflöst, ist
bei jedem Paar ein anderer.
Weitaus schädlicher als keine Ver-
söhnlichkeit ist die falsche Versöhnlich-
keit. Falsche Versöhnlichkeit bewirkt
keine psychische Veränderung. Versöhn-
lichkeit ist die reife, die wünschenswerte,
die ethisch wertvolle Haltung. Nur schon
deshalb liegt der Betrug einer vorschnel-
len falschen Versöhnlichkeit nahe.
Der moralische Druck in Richtung
Versöhnlichkeit bedroht den Prozess der
inneren Wandlung mit seiner Trauer und
seiner Selbstkonfrontation, der die Basis
einer wirklichen Versöhnung bildet, und
er verhindert das Reifen der Versöhnlich-
keit auf dem Boden einer mitmenschli-
chen Bezogenheit.
Das Erkennen und
Beurteilen der Grenzverletzung unter-
bleibt, und die eigenen negativen Gefühle
werden verdrängt im hastigen Über-
pflastern einer Verletzung, die kaum zu-
gegeben wird. Unter dem Druck, sofort
verzeihen zu müssen, umgehen falsch
Versöhnende den ganzen schmerzhaften
Prozess der Konfrontation und des Er-
kennens. Sie verpassen die Chance zu ei-
ner echten Lösung der Situation. Falsche
Versöhnlichkeit entwürdigt die Beteilig-
ten ebenso wie sture Verurteilung.
Nicht um jeden Preis
Versöhnen und Verzeihen sind nicht der
einzige Weg der seelischen Heilung nach
einem Liebesverrat. Nicht zu verzeihen
kann eine ebenso ausgereifte und ethisch
vertretbare Entscheidung sein wie die
zum Verzeihen.
Zwischen blindem Hass
und einer wohlerwogenen Entscheidung,
nicht zu verzeihen, liegen Welten. Es gibt
moralische Versöhnlichkeitsverweigerer,
die sich mit ihrer Entscheidung auf die
Seite ihrer Integrität und der Stützung
von Recht und Anstand stellen. Unakzep-
table Handlungen, die eine Verletzung
der Grundwerte des Opfers darstellen,
schliessen Versöhnlichkeit manchmal aus.
Ein Wunder – das keines ist
Wir wissen, wie sich die seelische Hei-
lung anfühlt. Das Wunder der Wende
zum Guten hat viele Gesichter. Der Blick,
der in eisiger Ablehnung alles Leben er-
starren liess, erwärmt sich wieder. Die
Erlösung durch das richtige Wort ent-
spannt das verkrampfte Herz und lässt
die Zärtlicheit einfliessen. Plötzlich findet
sich im ausweglosen Labyrinth der Wege
zueinander der Ort der Liebe.
Wir alle haben derartige Sonnenauf-
gänge erlebt. Diese Erfahrungen bilden
den Humus der Lebenshoffnungen, ge-
nau wie ihr Gegenteil, die erlittenen Ab-
stürze ins bodenlose Dunkel der Feind-
schaft, die das Grundvertrauen ins Leben
schmälern.
Es gibt sie, die Wende zum
Guten. Sie ist ein Wunder, ein unbegreif-
liches Geschenk, und paradoxerweise
auch kein Wunder, sondern die Frucht
einer Entscheidung, eines Willensaktes.
Das Wunder des wiedergefundenen
Vertrauens ist eines und ist keines. Ge-
schenk und psychische Schwerstarbeit zu-
gleich, ist es nicht zu fassen und doch teil-
weise zu erarbeiten. Versöhnung ist bei-
des: Arbeit und Geschenk. Sie verlangt
einen Weg der Integrität in der Auseinan-
dersetzung mit dem Geschehenen und
eine willentliche Entscheidung, die Ver-
söhnung anzustreben und durchzuhal-
ten – aber das reicht nicht.
Ein inneres
Engagement für die Versöhnung macht sie
wahrscheinlicher. Ob sie dann aber auch
eintrifft, steht in den Sternen.
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