Lieber G.
Der Jahreswechsel steht bevor. Es wird das erste Jahr ohne Kontakt zu dir werden. Letztens stand ich vor unserer gemeinsamen Arbeitsstätte und stellte erstaunt fest, das ich mich kaum noch an die Details der Inneneinrichtung erinnern kann. Woher also nehme ich die Gewissheit, das du noch so bist, wie ich es mir vorstelle? Warst du überhaupt jemals so, wie ich dich damals gesehen haben? Nein, ich denke nicht. Warum also sehne ich mich immernoch so nach dir? Es ist wohl das, was ich damals am meisten vermisste und was ich in dich so wunderbar projizieren konnte: Männliche Fürsorge, Überlegenheit. Ein Mann zum Anlehnen und Aufschauen. Das warst du für mich. Eigentlich sehne ich mich danach schon mein Leben lang. Eine Folge meiner gestörten Vater-Tochter-Beziehung. So ist jedenfalls die Meinung meiner Therapeutin und wahrscheinlich hat sie Recht. Nur so ist zu erklären, warum du trotz allem immernoch in meinen Gedanken bist.
Zu Hause läuft es gut. Die letzten Tage waren schmerzlich für mich, denn in dieser Zeit wird mir bewusst, das ich eigentlich keine Familie mehr habe. Alles was ich habe ist mein Mann, mein Sohn und die Familie meines Mannes. Eine tolle, große, lebendige Familie ist das und ich bin ein Teil von ihnen geworden. Nur kann ich das nicht fühlen. Ich fühle mich als Außenseiter in ihr, obwohl sie mir dazu nie den geringsten Anlass gaben. Auch in meiner Familie damals war ich immer nur am Rand. Als ich dann meinen Mann kennen lernte, wurden wir zusammen ausgegrenzt. Schuld daran soll er gewesen sein. Aber das ist natürlich Quatsch. Vielmehr war ich es, derer man sich so endlich entledigen wollte. Ich war die erste von ihnen, die Abitur gemacht hatte und die einzige die studierte. Wie sehr muss es sie gefreut haben, das ich dann beruflich nicht Fuß fassen konnte. Als ich heiratete war unsere Hochzeit eine Farce. Ein schlechtes Schauspiel und ich war noch nichtmal in der ersten Reihe. Ich bot nur den Anlass aber die Hauptdarsteller waren wie immer andere. Kein Verlust also, das man mein Hochzeitskleid danach ungefragt auf den Müll warf. Es war ja nur ein Kostüm.
Aber weißt du, wenn wir unsere Silberhochzeit in einigen Jahren feiern, soll es mein Fest sein. Meins und das meines Mannes und unseres Sohnes. Bis dahin werde ich über dich hinweg und wieder glücklich sein. Ich wünsche dir, das du ebenfalls ein neues Glück gefunden hast. Es sieht alles danach aus, denn nur so ist dein völliger Rückzug zu erklären. Ich denke ich weiß auch schon, mit wem du jetzt wieder zusammen bist. Ich wünsche euch Glück!
CU
28.12.2019 12:34 •
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