Zitat von Lalla:Das Mitgefühl was Ena hat und beschreibt, lässt euch nicht loslassen.
Das ist eine Falle.
Gesund ist erst einmal Wut, was so Menschen mit einem machen. Und dann irgendwann egal zu diesen Menschen zu stehen.
Ja. Viellicht hast du da völlig recht. Genau das dachte ich oft und denke ich immer noch oft.
Ich kenne solche Prozesse des Löslösens auch nur so: Mit einer gehörigen Portion Wut. Zumindest zu Beginn.
Ich habe sie oft regelrecht gesucht diese Wut, habe sie herausgefordert, provoziert, gelockt, alles getan, damit sie endlich aus ihrer gottverdammten Höhle kommt.
Habe zum Beispiel alles aufgeschrieben, was ich je an Verletzungen durch ihn erfahren habe. Jede Missachtung, jede Respektlosigkeit, jedes einzelne Mal, das er mich versetzt hat. Allein die Tatsache, dass er mir diese Rolle ernsthaft zugemutet hat. Da ist einiges zusammengekommen.
Ich habe mehrere DiN A 4 -Seiten damit gefüllt.
Das hat nie länger als ein paar Stunden angehalten.
Vielleicht ist das schlecht. Ich weiß es nicht.
Dann ist mir jedoch eingefallen, dass ich das alles freiwillig mitgemacht habe. Er hat mich nie zu irgendetwas gezwungen. Soll ich jetzt wütend auf mich selbst sein? Genauso wie auf ihn?
Was immer ich versucht habe: Ich kann in ihm einfach nicht den eiskalten, abgebrühten Bösewicht erkennen, der alles in seiner Macht stehende getan hat, um mich kalt lächelnd ins Unglück zu stürzen. Ich sehe ihn einfach nicht. Ich sehe jemanden, der mit seinem eigenen Leben nicht klarkommt. Der stark unter Druck steht. Der irgendwie das, was ihm fehlt, zu kompensieren sucht und dabei weder zu anderen noch zu sich selbst ehrlich ist.
Ich sehe jemanden, der mich missachtet hat, der sich aber vor allem selbst missachtet. Seit vielen Jahren schon.
Und ich habe noch mehr gesehen: Das vergangene Jahr habe ich fast ausschließlich damit verbracht, über mich und mein Leben nachzudenken. Darüber, was ich alles so gemacht oder nicht gemacht habe.
Und zu meinem Erschrecken und meiner tiefen Beschämung sind mir mehrere Situationen eingefallen, in denen ich mit Menschen nicht viel besser umgesprungen bin als er jetzt mit mir.
Und weißt du was? Ich konnte das bislang nie sehen. Es war mir nicht bewusst. Es war keine böse Absicht. Und damals hatte ich gute Gründe so zu handeln, die ich ganz locker vor mir selbst rechtfertigen konnte.
Es war offenbar einfach das, was ich damals, mit meinem damaligen Kenntnis- und Selbsterkenntisstand leisten konnte. Und ich bin gottfroh, dass ein paar dieser Menschen mich immer noch mögen oder zumindest nicht verdammen. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Ich habe sehr grobe Fehler gemacht im Umgang mit anderen.
Aber sehen konnte ich es erst, als ich diesen abgrundtiefen Schmerz gespürt habe.
Ich habe vor, mir das zu verzeihen. Ich konnte und ich wusste es nicht besser. Ich konnte nicht mehr leisten. Und ich bin fest davon überzeugt, dass ich auch künftig Fehler machen werde - vielleicht sogar schwere Fehler - weil ich es nicht besser weiß und kann in dem Moment.
Aber zurück zu deinem Einwand: Selbst wenn du absolut Recht hast - wo soll ich die Wut hernehmen, wenn sie einfach nicht kommt? Wenn ich ihn ansehe und einfach verstehen kann?
Das heißt noch lange nicht, dass ich alles rechtfertige, was er tut und getan hat. Absolut nicht. Aber ich kann es verstehen. Ich kann nachvollziehen, wie es dazu kam. Wie soll ich dieses Verständnis - und mir ist es ja auch neu - aus mir herausreißen, wenn es doch nun einmal da ist?
Der Dalai Lama soll einmal etwas gesagt haben, das mich in dieser Zeit immer begleitet hat:
Verstehen und verzeihen heißt nicht, dass man alles mit sich machen lässt.
Wenn ich nicht umhin komme zu verstehen und zu verzeihen, dann ist es doch immerhin so, dass für mich feststeht, dass ich es nicht mehr mit mir machen lasse.
Denn da liegt - glaube ich - der wesentliche Unterschied.
Es geht nicht darum, sein Verhalten zu entschuldigen und zu rechtfertigen, um dieses Spiel weiter mitspielen zu können. So etwa, wie ein Co-Alkoholiker die Sucht und das Verhalten des Alk. rechtfertigt, Verständnis hat, verzeiht, um ihn bloß nicht verlassen zu müssen.
Das wäre in der Tat fatal.
Aber auch der Alk. handelt nicht in erster Linie, um seiner Umwelt zu schaden (obwohl er es zweifelsfrei tut). Er handelt so, weil er in seiner Sucht feststeckt. Weil er keine Verantwortung übernimmt und übernehmen kann. Weil er die Folgen seines Handelns für andere überhaupt nicht sieht - dafür hat er selbst zu viele Probleme. Er sieht nicht, was er anderen antut und er sieht nicht, was er sich selbst antut.
Der Vergleich ist - wie ich finde - gar nicht einmal so schlecht.
Und auch der Alk. wird erst beginnen, Verantwortung zu übernehmen, wenn er sehr tief am Boden ist.
Und dann erst - viel später - wird er ermessen können, was er anderen angetan hat.
Ich hoffe jedenfalls, dass du nicht damit Recht behältst, dass das eine böse Falle ist.
Im Augenblick zumindest bleibt mir keine andere Wahl, als mit der mangelnden Wut zu leben. Wo soll ich sie herzaubern?
Und ich bin mir gar nicht immer so sicher, ob das, was jetzt in mir passiert, tatsächlich der schlechtere Weg ist.
Vielleicht kann ich dir in ein paar Monaten oder Jahren mehr dazu sagen.