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Kleinstadtidylle - Eine fiktive Trennungsgeschichte

Baltazar
Kleinstadtidylle

Kapitel I: Brückensturz

“Liebe Naturfreunde, schützt die Laichplätze und haltet Abstand zum Ufer! Euer NABU“

Die meditative Versenkung endete im Fluß. Triefend naß krabbelte Marianne ans Ufer, legte sich rücklings heulend ins Gras, schlug vor Scham die Hände vor das Gesicht, während sich in der grauen Wolkendecke ein zerfasertes Oval blau schimmernd öffnete. Die bizarre Kontur der schmalen Öffnung schien sie zu verspotten. Geschockt vom harten Schlag bemerkte sie den glitschigen Frosch nicht, der glucksend aus ihrer zerfetzten Bluse schlüpfte und lädiert zurück ins Schilf kroch. Der linke Schenkel hing regungslos an seinem verbeulten Leib, doch schaffte er es noch, im Wasser abzutauchen.

Nachdem sie am frühen Morgen die Überdosis Antidepressiva geschluckt hatte, ergriff sie urplötzlich ein manisches Hochgefühl grenzenloser Tatkraft. Eine Stunde später, im Nebelrausch nie gekannter Gemütsruhe, ließ sie sich flatternd von der breiten Brückenmauer fallen, eingehängt an Engelsflügeln aus der Requisitensammlung des Laientheaters. Geschickt fixierte sie das Holzgestell mit Panzerband und Kabelbindern an ihre schmalen Schultern, schritt beschwingt aus ihrem Häuschen in der Altstadt den steilen Weg ins tiefgelegene Tal, federleicht getragen von einem Gefühl der Schwerelosigkeit.

Der pensionierte Geschichtslehrer Kruckmüller aus dem übernächsten Haus blieb staunend stehen und beäugte verwundert ihr Kostüm ,,Wo wird heute denn Fasching gefeiert, in der Erlebnisherberge?“
Sie lächelte ihn glückselig an ,,Nein, im Himmelsbogen“ und setzte ohne weitere Erklärung ihren Weg fort.

Die Idee des Brückenflugs kam ihr in der Rolle des Ikarus bei der letzten Freilichtaufführung in Reuetal. In die spirituelle Phantasie ihres Heilsglauben mengte sie bei den Proben die heidnische Idee der Gotteslästerung, wonach eine Ikara es schafft, was Ikarus mit dem Sturz vom Himmel büßte. Die Furcht vor Gottes Strafe konnte sie nicht von der Bestimmung abbringen, engelsgleich den historischen Flug zu wagen, um anders als der hochmütige Ikarus tatsächlich die Sonne zu erreichen. Felsenfest überzeugt vom Glauben, daß der kosmische Äther sie sicher in die Sphäre geleiten wird, wo es heller strahlt als sonst irgendwo im Universum, nahm sie auf dem knappen Meter des Mauersims Anlauf und hob ab.

Es war der Spannweite der Flügel und Auftriebsfläche der straffen Bespannung aus feiner Seide zu verdanken, daß die Physik der Unternehmung nur mit einem schmerzhaften Bauchklatscher im flachen Uferwasser endete, der Aufprall noch gedämpft ward im matschigen Flußbett.

Von der Brücke blickte fassungslos ein Paar hinab und schüttelte verständnislos den Kopf ,,Kann die Bekloppte das Schild nicht lesen?“ Schlagartig zu Bewußsein gelangt, ließ Marianne die Leute angesichts der peinlichen Szene an ein verrücktes Erfrischungsbad in der Frühlingskühle glauben. Wie hätte sie auch sonst erklären sollen, daß ihr selbst das Ertrinken mißlang?

Die Wendung war nicht absehbar, als sie vier Wochen zuvor mit dem Meditationskurs „Das Licht deiner Mitte“ begann. Die innere Einkehr sollte ihre Lebenslust fördern, nicht den Todestrieb. Schon bei der ersten Entspannungsübung im Schneidersitz verkrampfte das Zwerchfell und ihr wurde schwarz vor Augen. Statt einer weißen Wand sah sie Rüdiger mit dem Schuhkarton unter dem Arm, die Türklinke schon durchgedrückt. Seine Habseligkeiten beanspruchten weniger Raum als ein Paar Schuhe der Größe 42. Wäre sie nicht durch das Knarren der Dielen aufgeschreckt, hätte sie lange über seinen Verbleib grübeln müssen, von seinem heimlichen Verschwinden nur ihrer Mutter erzählt, die mit den Achseln gezuckt hätte ,,Vielleicht hat sich der Taugenichts eine Arbeit gesucht und dabei verlaufen?“

Marianne schaltete das gelbe Flurlicht ein und blieb in Rüdiger`s vorgebeugten Rücken stehen. Der Tonfall ihrer Stimme verriet, daß sie die Tragweite des Abschieds bereits ahnte ,,Was hast du denn vor mitten in der Nacht?“ Als ob er noch kurz eine wortlose Flucht erwog, ließ er zögerlich die Klinke los, verdrehte seinen Oberkörper nach hinten und erfaßte Marianne im Schein der Lampe. Der Lichtkegel fiel über ihren *beep* Körper, der regungslos stehen blieb. Schonungslos führte der Anblick ihrer *beep* das ganze Ausmaß der Versagungen vor Augen, die sie hingenommen hat. Er schaute vornüber gebeugt mitten auf die lange Falte zwischen ihren eingefallenen Brüsten, sah an ihrer knochigen Vulva herunter, wobei er kurz zusammen zuckte, hatte er doch ihre Schamhaare noch nie grau meliert gesehen. Rüdiger schluckte erschrocken und wollte den Blick abwenden.

Ohne sich ganz aufzurichten wagte er endlich einen Augenkontakt, hilflos verlegen, mit diesem
elenden hündischen Blick, den er immer aufsetzte, wenn er sich um eine Antwort drückte. ,,Nun sag schon, was soll das?“ hakte sie kraftlos nach. Mehr Willenskraft vermochte ihr ausgemergelter Körper für die letzte Frage nicht mehr aufbringen. ,,Es ist nur eine kurze Auszeit, . “, stammelte er. Der erste Anflug eines abfälligen Grinsen in Mariannes Mundwinkel ließ ihn sogleich verstummen, was ihn bestärkte, endgültig zu gehen. Er wendete sich wieder ab, öffnete die Tür und verschwand in der Dunkelheit des Treppenhauses. Sie lauschte wie angewurzelt mit geschlossenen Augen den verhallenden Schritten hinterher, hörte noch teilnahmslos, wie die Haustür ins Schloß fiel. Der träge Schließarm hinderte die schwere Tür lange, bis der Schnäpper mit einem leisen Klacken endlich einrastete.

Irgendwann drückte Marianne ein Stockwerk höher bedächtig die Wohnungstür ins Schloß, lehnte sich mit dem Rücken an die Innenseite und rutschte langsam an dem weiß lackierten Holz zu Boden, ohne die schmerzhaften Stiche in den Schulterknochen zu spüren, die bei jedem Profilbuckel eines Querriegels gestaucht wurden, beim Rutsch ins Bodenlose. Eine kleine Ewigkeit hockte sie mit dem blanken Po auf den kalten Kieferdielen, krümmte den Rücken, ohne die spitzen Bandscheiben zu spüren, die gegen das Türblatt drückten. Den Kopf auf die Knie gelegt umschlang sie die Beine, wippte Gedanken verloren im seelenlosen Vakuum.

Schon lange hatte sie sich die Reue abgewöhnt, wenn sie ihn demütigte, doch nun saß sie eingerollt an der Tür und konnte nicht verhindern, daß sie sich plötzlich erinnerte, wie ein anderer Rüdiger als der, der sie gerade verlassen hatte, in der ersten Nacht behutsam ihr die Bluse auszog und seine Hand zärtlich auf ihre bebende Brust legte. Sogleich zerstäubte sie das Bild, beschloß umgehend, das Gedächtnisprotokoll umzuschreiben, mit der Rechtfertigung seines schändlichen Fortgangs. Fortan galten seine Verfehlungen nur noch als Maßstab seiner Verurteilung, gleichsam einer häßlichen Narbe, die sie für alle sichtbar trug, ohne jemals wieder über den Ursprung der Verletzung zu reden.

Mit der Zurechtlegung entschied sie sich für die Verbitterung, schlug zur Bekräftigung mehrmals heftig den Hinterkopf gegen die Kassette im Türrahmen als könne sie mit jedem Schlag die Bilder der glücklosen Liebschaft endgültig löschen und mit der unbarmherzigen Zensur gleich die komplette Erinnerung an seine Existenz.

Niemand im Bergweg dachte darüber nach als er eines Tages weg war, keiner kannte seinen Namen. Wenn sich ihre Wege kreuzten, sah er die anderen Bewohner flüchtig im Vorbeigehen an und bewegte lautlos die Lippen, als reiche sein Lungenvolumen nicht für ein vernehmbares Grußwort. Gespannt nahmen sie ihn in den ersten Wochen nach seiner Ankunft wieder und wieder in Augenschein und warteten, ob er nicht doch einen Laut hervorbringt. Es blieb aber bei diesen seltsamen wortlosen Begegnungen, man gewöhnte sich an seine kohlrabenschwarzen Füße genauso wie an seinem stummen Gruß. Seine geistesabwesende Erscheinung brachte ihn in der Nachbarschaft die Namensgebung ein: das Gespenst, das barfuß die Straße entlang schlich. Ein Gespenst, das Samstag früh mit kurzen Schritten und gesenktem Kopf zum Markt tippelte und am Mittag mit einem Korb frischen Gemüse im kleinen Fachwerkhaus verschwand.

Die Kinder witzelten über seine schwarzen Socken, nur solange bis die Alte aus dem ersten Stock am Anfang der Straße richtig stellte, daß die dunkle Farbe der Dreck der Straße ist. Manchmal hörte man sphärische Klänge und indianischen Singsang aus dem offenen Fenster seiner Dachwohnung. In der warmen Jahreszeit trug er fast immer die gleiche rosafarbene Stoffhose und ein verwaschenes weißes Leinenhemd, das einst ein filigranes Muster verzierte, nunmehr aufgelöst in den Knitterfalten des abgewetzten Textils. Im Lauf der Jahre löste sich das Gespenst vor den Augen der Bewohner auf und sie nahmen ihn nicht mehr wahr, weshalb auch niemanden auffiel als er ganz wegblieb.

Einige Jahre später erzählte eine entfernte Bekannte der Marianne auf einem Gesangsseminar, daß sie den Rüdiger in einer Hippiekolonie auf Goa getroffen hätte. ,,Tatsächlich, Rüdiger, in Indien?“ erstaunt bei der Vorstellung, wie er es wohl angestellt hat, den Kontinent zu überbrücken. ,,Ja, aber mit seinem Geschäft lief irgendetwas schief“. Die Bekannte schilderte die Razzia in seiner Hütte in Strandnähe, wie wütende Polizisten in Uniform alle Kommunemitglieder mit langen Bambusstöcken auf den Vorplatz zusammentrieben. Rüdiger konnte an der Rückseite entwischen, lief auf eine angrenzende Baustelle und kletterte barfuß einen Kran hoch, tänzelte in einem wallenden Gewand mit ausgebreiteten Armen über den Ausleger und verlor die Balance.

Die Bauhelfer aus Kalkutta sprangen zur Seite als er aus zehn Metern kopfüber in das frische Betonfundament klatschte, aufschlug mit einem dumpfen Knall, so heftig, daß der untere Teil seines Körpers in der zähflüssigen Masse stecken blieb. Erst im letzten Augenblick konnten die verdutzten Arbeiter seine Füße greifen und ihn vom Grund der Fundamentwanne heraus ziehen und legten ihn der ratlosen Polizei vor die Füße. Aus seinem Mund blubberte breiiger Beton, vermischt mit seinen Schneidezähnen. Er atmete nicht mehr. Die eigenartige Verrenkung im Nacken wurde schnell als Genickbruch erkannt. Sein ganzer Körper hatte einen grauschwarz geperlten Überzug, der sich kaum merklich von der schwarzen Farbe seiner blanken Füße unterschied.

Marianne war nach der Erzählung zum Heulen zumute, hat Rüdiger beim Ertrinken im indischen Beton doch vermocht, woran sie im Flußwasser der Jagst gescheitert war.

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Kapitel II: Lückenglück

Xantia jubelte, als Marianne ihr endlich erlaubte, die frei gewordene Dachwohnung zu beziehen. ,,Meinetwegen, in Gottes Namen, geh nach oben“ beschied sie ihrer Tochter kurz und bündig. Prompt fiel sie der Mutter dankbar um den Hals. Marianne bestaunte die überschäumende Freude als habe sie ein Glück entdeckt, das eigentlich ihr zustünde. Ungestüm drehte sich Xantia im Kreis, hüpfte auf der Stelle und vollführte mit wedelnden Armen einen Freudentanz.

Mütterlich besorgt ließ sie sich die Wehmut nicht anmerken, die sich unter das überschwängliche Glück der siebzehnjährigen Tochter mischte. Seit seinem Fortgang hat sie den Dachboden nicht mehr betreten. Einmal nur ging sie die schmale Stiege nach oben, bedächtig langsam, stupste vom Treppenabsatz mit der Fußspitze die Zimmertür seines Schlafgemachs auf, die sich knarrend öffnete.

Alles war unverändert, neben dem Futon aus Kokosfasern stand die Kommode mit seinen wenigen Kleidungsstücken. Die Glühbirne hing wie eh und je jämmerlich am Kabel von der Decke, ein vergilbtes Ying/Yang-Poster löste sich an zwei Ecken und hat sich zur Hälfte aufgerollt, so daß Ying nunmehr Yang verbarg. Die Bongo-Trommeln lagen verstaubt in einer Ecke, in einer anderen stand grazil die Wasserpfeife.

Schwache Sonnenstrahlen fielen durch das einzige Fenster in der Giebelspitze, trafen die aufgewirbelten Staubkörnchen über das Futon, das noch immer so zerknautscht dalag, wie er es in jener Nacht verlassen hatte. Die staubig flimmernde Luft tänzelte verworren im funkelnden Lichtbündel über die Liegekuhle. Immer noch zeichneten sich die Umrisse seines hageren Gestalt im eingedrückten Futon ab. Rüdiger schlief also die letzte Nacht in Embryo-Stellung, schoß es ihr blitzartig durch den Kopf, wobei sie kurz auflachte.

Mit leeren Augen suchte sie die kargen Dingen nach einem Hinweis ab, der die erloschene Liebe nachträglich begründen könnte, um nach einer Minute entmutigt die vergebliche Suche mit einen schwermütigen Seufzer aufzugeben. Schließlich trat sie einen Schritt zurück und betrachtete ein letztes Mal die Silhouette im Futon. Langsam quietschend fiel die Zimmertür wie von Geisterhand bewegt wieder zurück in die Laibung und versperrte die Sicht ins Innere der Kammer.

In diesem Augenblick klingelte es an der Haustür.

Marianne eilte erleichtert zwei Stockwerke hinunter und öffnete betont freundlich dem Postboten die Haustür. Er hielt ihr einen ockerfarbenen, bauschigen Umschlag entgegen, nicht größer als das Format einer Postkarte ,,Heute nur ein Päckchen“.
,,Dankeschön Alex“, quittierte sie den Empfang mit sanfter Stimme, ,,Das ist auch genug für einen Tag!“.

Seitdem hat sie seine Kammer nie wieder aufgesucht, überließ die Etage unter dem Dach dem
großen Vergessen, das eine Not abverlangt, die Schatten wirft, länger als das Leben selbst.

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Kapitel III: Inbesitznahme

… Fortsetzung folgt

06.04.2024 20:03 • x 1 #1


E
Sorry, ich hab's nicht gelesen.

Was bezweckst du mit deiner fiktiven Geschichte?

07.04.2024 17:48 • #2


Aurelin
fürwahr, tatsächlich sehr viele Adjektive, dessen ungeachtet aber auch famos irgendwie, mit einem Humor der großen Distanz.
schon lange nichts mehr in diesem Stil gelesen... und ich frage mich, wo Du den Leser (generisches Maskulinum, yeah!) hinführen magst. oder um welches Geschehen herum, den ein auktorialer Erzähler mit dieser Distanz verhält sich nicht selten wie ein Jäger, der um seine Beute wie in einem Kreis herumschleicht, gleichermaßen unbemerkt wie auch fähig das Bauchfell von allen Seiten zu sehen und zu beschreiben, haargenau.
ich bin wirklich gespannt auf die Fortsetzung!

07.04.2024 23:33 • #3




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