Liebe Sieglinde,
wer nicht entscheidet, über den wird entschieden.
Du ziehst jetzt ängstlich und verzagt den Schw... ein, weil Du Angst vor dem WE ohne ihm, vor einem Urlaub allein, vor dem Rest des Lebens als Solofrau hast.
Verstehe ich voll und ganz. Du bist nahe 60 wie ich auch, da stehen einem nicht mehr alle Türen offen und der Großteil der Lebensspanne ist abgelebt. Das Bewusstsein ist ganz anders als mit 30, da man nun um die eigene Endlichkeit weiß.
Ich kann auch die Art von Beziehung irgendwo nachvollziehen, die Ihr nun führt. Der Glanz ist verschwunden, der Alltag längst eingekehrt und damit haben sich auch Beziehungsmuster herausgebildet, die oft nicht sehr gesund sind. Vor allem wenn sie gegen das eigene Selbstwertgefühl gehen, was Du ja ganz klar empfindest.
Du sitzt da wie das Kaninchen vor der Schlange und wartest ab, was geschieht. Zur Flucht fehlen Dir Mut und Eigeninitiative und Entschiedenheit, Du verharrst in einer Schockstarre und die Schlange entscheidet, wann und wie sie zubeißt.
Liebes, das sind eingeübte Verhaltensmuster, die Du erworben hast und weiter lebst.
Du räumst ihm viel zu viel Macht ein über Euch zu entscheiden. Du versuchst verkrampft zu retten was zu retten ist und wirst Dich ihm damit vor die Füße. Bitte habe mich doch wieder lieb, bitte schau mich wieder an und zeige mir, dass ich immer noch eine tolle Frau für Dich bin. Das ist die Botschaft, die Du durch Dein Verhalten aussendest.
Tja, das alles teilst Du mit, durch Worte, Taten und auch ohne Worte.
Und damit wächst seine Macht und Deine schwindet Stück für Stück, bis nur noch ein verzagtes Häufchen Elend übrig ist. Und vor einem Häufchen hat keiner Achtung, keiner Respekt. Im Gegenteil, er kann machen was er will. Er ist lieblos, zurückweisend und lässt Dich auch bei Problemen allein.#
Klar kannst Du nicht erwarten dass er Deine Probleme bzgl. der Mutter z.B. löst, aber er hätte Anteilnahme signalisieren können, hätte vielleicht Erkundigungen einziehen können, er hätte Hilfsbereitschaft anbieten können. Aber nein, das Thema war ihm unbequem und das überließ er dann Dir. Kümmere Dich um Deinen Schrott selbst, regle das irgendwie und lass mir meine Ruhe mit dem unerfreulichen Thema - so seine Botschaft.
Du hast Angst vor dem Alleinsein - dabei stehst Du doch eh schon allein da! Aber Du merkst es nicht. Er will es bequem haben, er will nicht tangiert werden mit unangenehmen Dingen, er will nur das Schöne, weil es mit Partnerin schöner ist als allein.
Aber partnerschaftlich ist sein Verhalten nicht. Du bist da als Frau im Leben, gut genug für Sx, für den Urlaub, für ein gemeinsames Essen, für ein Glas Wein auf der Terrasse und als Ansprechpartnerin. Und neuerdings auch als Frau, für die man sich keine Mühe mehr geben muss, weil die ja eh froh ist, dass sie ihn, den tollen Hecht, hat.
Ich schätze, Du hast Dir schon während der Beziehung zu viel gefallen lassen, zu viel hingenommen und das fällt Dir jetzt schmerzhaft auf die Füße. Dir fallen Begebenheiten ein, wo Du ein wenig Unterstützung und Anteilnahme hättest brauchen können, aber damit will er sich doch nicht belasten.
Dir werden noch weitaus mehr Begebenheiten einfallen, die Dich schmerzen werden und irgendwann das Gute und Schöne, das aus der Beziehung für Dich erwächst, nicht mehr aufwiegen können.
Du wurdest zum bequemen Anhängsel, das man nicht mehr sonderlich schätzt und das man auch nicht gut behandeln muss. Du bist in der Phase der Abwertung angelangt, die Dich ängstlich und handlungsunfähig macht. Am liebsten lehnst Du Dich zurück, schließt die Augen und denkst an die schönen Momente ...
Welch schreckliche Vorstellung, das WE ohne ihn zu verbringen! Welch schreckliche Ängste vor einer Trennung, womöglich einer anderen Frau, die sein Interesse geweckt haben könnte. Welch große Angst vor einer Entscheidung, für die Dir schon jegliche Energie fehlt!
Ich kenne das alles. Ich fuhr zu ihm am Wochenende, obwohl die Beziehung doch schon gar keine mehr war, obwohl ich mich längst nicht mehr geschätzt und geachtet fühlte und obwohl ich wusste, dass es mir nicht gut tun würde. Dennoch, die Vorstellung nicht zu fahren war um so viel schlimmer. Und so verharrte ich in meiner miesen Position und fuhr wieder zu ihm, in der Hoffnung, ein klein wenig Liebe zu erfahren und hoffentlich nicht mit wieder mit unbedachten Äußerungen verletzt zu werden. Er war ja nicht bösartig, aber er zeigte mir immer wieder seine Grenzen und dass er im Gegensatz zu mir noch ein eigenständiges Leben führte, an dem ich keinen Anteil hatte. Ich war die für das WE, wenn sonst nichts ist. Aber über sein Leben entschied er allein und ich duckte mich und passte mich an, in der Hoffnung eines Tages das zu ernten was ich mir ersehnte: mich als vollwertige und unverzichtbare Partnerin fühlen zu können.
Nichts davon geschah. Es ging weiter, ich gab klein bei, redete mir die schönen Dinge schöner als sie waren, litt unter den leidvollen Dingen und hielt eisern an ihm fest. Zu viel stand auf dem Spiel, aufgeben niemals! Lieber leiden als lösen, so die Devise.
Was geschah? Nun ja, ich erntete eben was ich gesät hatte. Ich hielt nicht viel von mir und so hielt er eben auch nicht sonderlich viel von mir. Ich liebte mich nicht selbst und hoffte damit auf die Liebe von ihm, damit ich mich selbst liebenswert finden konnte. Ich wollte geachtet und geschätzt werden, aber wer sich selbst nicht achtet, der wird halt nicht geachtet.
Der verliert nur immer mehr an Boden und fühlt sich minderwertig und klein und das ist auch selbst verschuldet. Weil man sich zu sehr abhängig gemacht hat von einem Wohl und Wehe, das einem der Partner zuteilt.
Egal, was er tut - Du bleibst. Er geht auf Abstand - Du versuchst verzweifelt den Abstand zu verringern um Dich wieder ein klein wenig sicherer zu fühlen. Er ist abweisend - Du möchtest reden um den Urzustand wieder herzustellen. Du wirbst um ihn und erntest damit das Gegenteil dessen was Du willst. Er hat die Achtung vor Dir verloren.
Das spürst Du und das kratzt an Deiner Ehre und das tut verdammt weh, weil man fühlst. dass mich sich selbst damit Schmerz zufügt. Aber lieber den Schmerz als Verlassenheit zu spüren und die scheinbar komplette Machtlosigkeit die Situation zu beherrschen.
Du denkst Dir, wenn ich dieses WE nicht mit ihm verbringe, werde ich leiden, ihn vermissen, Schmerzen und Hoffnungslosigkeit spüren, womöglich Eifersucht und ich werde 1000 Ängste ausstehen, ob das das Ende sein könnte.
Und genau das wird auch so kommen, denn innere Ängste lassen sich nicht wegreden und nicht beherrschen. Sie wachsen sogar immer mehr, auch das hast Du mittlerweile gemerkt.
Und so wartest Du und hoffst irgendwo darauf dass er Dich ruft. Denn dann wirst Du da sein und Du wirst das Gefühl haben, dass Du das Ruder vielleicht sogar zu Deinen Gunsten rumreißen kannst. Du bist da und Du kannst die Situation steuern. Nachgeben, lieb sein, ihm zeigen wie sehr Du ihn schätzt und wie schön es doch zu zweit ist. Und kriegst Du auch nur ein Splitterchen von dem was Du Dir ersehst, bist Du wieder beruhigt. Er ist ja doch ein netter und liebevoller Mann, er hat ja doch so gute Seiten. Ja, hat er auch. Aber er hat auch schlechte Seiten. Und das Gesamtpaket schmeckt Dir nicht mehr so recht, denn Du merkst, dass Du an Boden verloren hast.
Wer da ist, kann was tun - so Deine Gefühlslage. So falsch ist das ja nicht, kannst Du auch so machen, das ist kein Schaden.
Aber und das ist das Schlimme im Leben: es vergisst nichts und die Schieflage wird Dir weiterhin zu schaffen machen. Die Ängste sind unerfreulich und keimen immer wieder auf und irgendwann kannst Du sie nicht mehr in Schach halten, denn sie überfallen Dich immer wieder. Was, wenn die Trennung kommt? Wie soll ich das überleben? Schaffe ich doch nicht!
Doch, aber erst wenn Du musst. Es kann gut sein, dass er demnächst seinen Hut nimmt, nämlich dann, wenn er weniger von Dir profitiert als er möchte. Dann bist Du abserviert und zurück bleibt keine Sieglinde, sondern ein verzweifeltes Klammerlindchen! Oh Mann, ich kann das alles so gut nachvollziehen! Es tut weh wie die Hölle.
Ich denke, über kurz oder lang wird das den Bach runter gehen. So leid es mir tut. Weil nämlich die Achtung fehlt, die die Grundlage einer jeden Beziehung ist. Wenn er keine Achtung mehr vor Dir hat, bist Du ihm nichts wert und er tritt Dich mit Füßen und weist Dir Deinen Platz zu. Dass Du noch Achtung vor ihm hast, hilft nicht, wenn es nicht gegenseitig ist.
Was Dich hält, ist Gewohnheit und die Angst vor dem Alleinsein.
Es wird vermutlich so weit kommen - nach meiner Einschätzung. Ich glaube nicht, dass es Dir gelingt, eine Beziehung auf Augenhöhe herzustellen. Wer Angst hat, kann das nicht. Da hilft auch kein sich selbst gut zureden mehr. Die Angst ist da und steuert Dich und lähmt Dich auch.
Wenn er sich trennen will, tut er es, denn er ist der mächtigere Part von Euch, derjenige, der handlungsfähig bleibt. Es ist nur die Frage, wann er es tut. Wenn Du ihn genügend nervst, geht es schneller. Wenn nicht, zieht es sich länger hin. Dann leidest Du halt noch länger, macht nichts, kennst Du, bist Du gewöhnt. Frauen können das oft sehr sehr gut und sehr sehr lange.
Profitiert er noch von Dir , wird er Dir noch bleiben, eben weil er Gewinn daraus zieht.
Im Grund nützt er Dich aus, aber das willst Du nicht wahrhaben. Verstehe ich auch, tut zu weh und Du profitierst ja auch.
Entweder es gelingt Dir, endlich mal innere Stärke zu aktivieren und auch entsprechend aufzutreten und ihm signalisieren, dass Du keine Verfügungsmasse von seinen Gnaden bist, damit Du Dich endlich wieder wohler fühlen kannst oder aber es gelingt Dir nicht und die Abwärtsspirale wird sich weiter drehen.
Mann, Du feige Frau, Du bist doch auch wer! Du kannst auch ohne ihn und das vermutlich besser als Du glaubst! Schlag Deiner Feigheit ein Schnippchen und nimm Dir für das nächste WE was tolles vor. Verabrede Dich mit einer Freundin, mit Bekannten oder noch besser, spring über den Schatten der Angst und pack Dein Köfferchen und fahr irgendwohin. Nach Berlin oder Wanne-Eickel oder München und mach was schönes, nur für Dich. Geh allein essen, geh ins Museum, geh in den Park, übe genau das, wovor Du Angst hast. Was glaubst Du wie gut Dir das tun könnte. Du sagst, nächstes WE nicht, da habe ich was Anderes vor. Du brauchst dem auch nicht zu sagen, was Du vor hast. Aber mach was und gib Dir einen Tritt in den bequemen Ar....
Tu was, aber warte nicht ab, was er macht und tut oder auch nicht.
Das ist mein Ratschlag an Dich. Du kannst Dich auch selbst retten, wenn er geht, musst Du das eh und dazu brauchst Du ihn auch nicht. Aber gönne Dir mal eine kleine Auszeit, bau Dein Selbstwertgefühl wieder ein wenig auf, beweise Dir, dass Du auch ohne diesen Mann was für Dich tun kannst.
Sei nicht feige, die Feigheit lähmt Dich und macht Dich kleinmütig. Übertölple Deine Ängste, denn ansonsten werden sie immer mehr wachsen.
Du brauchst ein Gegenmittel und ein kleiner Schritt, den Du für Dich allein gehst, wäre ein Anfang zu mehr Wohlbefinden, zu mehr Selbstbewusstsein und zu mehr Selbstwertgefühl. Das alles ist in Dir, aber Du musst es heraus holen.
Du musst jetzt gar nichts entscheiden, Du kannst die Zukunft eh nicht planen, aber sei es Dir wert, jetzt mal einen kleinen Schritt in mehr Eigenständigkeit zu tun. Das wäre meine Bitte an Dich.
Ich habe es damals nicht geschafft, ich verharrte, bis er über mich entschied. Natürlich ging er und ich dachte, ich sterbe. Tat ich nicht, ich litt, aber im Lauf der Zeit wuchs ich auch wieder. Ein paar Monate nach der Trennung war ein Kongress, in Berlin. Er kannte Berlin, hatte sogar eine Bekannte, wo er ein Bett vorfand (ob er immer allein darin lag, weiß ich nicht) und ich träumte immer davon dass er mir Berlin zeigen würde. Ach wie schön, Hand in Hand und vergnügt zu bummeln, was anzuschauen, einen Kaffee zu trinken usw. Ich sah es vor mir, aber es kam nie dazu.
Tja, und nun also Berlin. Allein? Er könnte auch auf dem Kongress sein, wir sind in derselben Sparte. Ich hatte ihn ja nicht mehr gesehen seit der Trennung. Ich könnte zusammenbrechen, ich sah mich einsam in meinem Zimmer, weinend vor Kummer und Angst.
Es war meine Entscheidung, Berlin anzunehmen oder feige daheim zu bleiben. Was also tun?
Am Wochenende traf ich meine Entscheidung. Ich würde fahren und buchte am Montag ein Hotel, mitten in Berlin und nicht draußen in Neukölln, wo der Kongress stattfand. Ich buchte meine Bahnfahrkarte und ich druckte mir Fahrpläne und Routen aus. Und wenn ich eh schon ein paar Tage dort sein würde, dann würde ich doch gleich noch das WE anhängen.
Es klappte alles wunderbar, ich verfuhr mich nicht mal. Ich hatte Spaß auf dem Kongress, traf Kollegen, ging Abends aus, lernte neue Leute kennen, besuchte die Firmenausstellung. Und dann hatte ich noch zwei Tage, die ich allein verbrachte.
Kein einziges Mal verspürte ich Sehnsucht oder Einsamkeit. Er war gar nicht gekommen, ich ahnte warum nicht. Er war ein feiger Mensch, genau wie ich.
Und dann fuhr ich heim und war richtig glücklich. Das erste Mal seit langem und ich erkannte, dass genau diese Berlinreise mein Freischwimmer war. Seither liebe ich diese Stadt und fahre immer wieder mal gerne hin und jedes Mal verspüre ich dort etwas, was ich damals so schmerzlich vermisst hatte: Freiheit!
Ich wünsch Dir alles Gute und sieh zu, dass aus dem Sieglindchen wieder eine strahlende Sieglinde wird, die es mit dem Leben aufnehmen kann.
30.06.2021 11:13 •
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