Hallo David,
ich habe nun einige der ersten Seiten und die letzten beiden Seiten gelesen. Ich hoffe, ich kann mir nun ein halbwegs klares Bild von deiner Beziehungskrise machen. Ich bin zwar neu hier, habe aber einige Erfahrungen in diesem Bereich.
Dein Harmoniebedürfnis ist unübersehbar. Aber da ich das selber ebenso stark habe und meine Frau nicht weiß ich, dass man das nicht ablegen kann wie eine alte Jacke. Es gehört zu dir und du solltest dich nicht schlecht fühlen, weil du harmoniebedürftig bist. Was aber in diesem Zusammenhang wichtig ist: Liebe und Beziehung hält Reibung und Konflikt aus. Man braucht nicht Harmonie, um Liebe zu erhalten. Und Menschen, die Reibung, Konflikt und Auseinandersetzung brauchen, um sich lebendig zu fühlen, haben ein Recht auf diese Lebensweise. Auch wenn das bei dir immer wieder zu neuen Zweifeln führt. Jennifer darf also so sein wie sie ist, auch wenn das für dich schwierig ist und wnen sie sich anders entwickelt hat, als du es zu Beginn eurer Beziehung erhofft hattest.
Ich kann dich wirklich sehr gut verstehen, und es gibt auch keine einfachen Lösungen. Die Lösungswege, die du zusammen mit deinem weiblichen Coach begonnen hast, sind vielversprechend. Vor allem aber sind sie in DEM Moment die richtigen Wege, in dem DU entschieden hast, dass sie die richtigen Wege sind. Man muss sich manchmal für eine Richtung entscheiden, um zu spüren, dass man dort neues entdeckt, auch wenn man dabei Vertrautes zurück lässt. Und dann nicht gleich wieder beirren lassen oder umkehren.
Ähnlich wie du glaube ich noch nicht, dass die Zeit für eine Trennung reif ist. Aber es lohnt, über die Möglichkeiten (und die praktische Umsetzbarkeit) einer Trennung nachzudenken, damit sie nicht zum Tabu wird, das wie ein drohender Tsunami am Horizont steht, bei dem jemand auf die Pausentaste gedrückt hat, der aber jeden Moment wieder los stürmen kann. Man kann Trennungen überstehen, auch Kinder überstehen Trennungen. Und danach ist nicht alles schrecklich, ebenso wie danach nicht alles gut ist.
Nun aber mal konkreter nach so vielen Allgemeinheiten:
Kannst du dir eine kleine Insellandschaft vorstellen? Drei Inseln, die immer wieder ihr Größe und ihr Aussehen verändern? Zwei davon sind die Ich-Inseln von deiner Frau und von dir, die dritte ist die WIR-Insel, auf der sich alles befindet, was euch verbindet und war für euch als Paar wichtig ist, vor allem die Kinder. Aber es ist dort mehr als die Kinder. Beim Herausfinden dessen, was sich auf dieser WIR-Insel befindet, solltest du sehr aufmerksam sein. Schau doch mal sehr genau nach. Man übersieht oder vergisst viel nach heftigen Auseinandersetzungen. Selbst wenn dort zur Zeit kein S. mehr ist, vielleicht ist dort trotzdem eine anderen Form von Intimität, es gibt auch emotionale Intimität. Und vielleicht schreibst du sogar mal auf, was du dort findest.
Diese WIR-Insel ist besonders stark in Bewegung, es kommen täglich und stündlich Dinge dazu und es verschwinden genauso oft wieder andere vertraute Gegenstände. Diese Wir-Insel hat bei euch eine stürmische Zeit hinter sich, aber ich habe den Eindruck, dass sie gegenwärtig und in den nächsten Tagen und Wochen wieder etwas größer, ruhiger und farbiger werden könnte. Es lohnt, daran zu arbeiten.
Wichtiger als die Wir-Insel ist in meinen Augen aber die Akzeptanz, dass die jeweiligen ICH-Inseln absolut eigenverwaltet sind. Da steht letztlich sogar ein Schild: Betreten verboten. Vor allem aber kann die Distanz zwischen deiner Ich-Insel und derjenigen deiner Frau sehr gut dabei helfen, dass Jennifer ihre Weltanschauung und ihre sehr komplexe Gedankenwelt dort ungehindert ausleben kann. Das alles gehört zu ihrer Insel wie ihre Haarfarbe und ihre Stimme. Du weißt, dass es da ist, du weißt, dass es zu ihr gehört, aber du musst es nicht verstehen, ebenso wenig, wie du es mitmachen oder unterstützen musst. Ob nun der gute alte Marcus oder der Sauna-Opa auch noch dort ihren Platz haben, kann ich nicht beurteilen. Sie hat ja durchaus schon Opfer gebracht, wenn das stimmt, was ich in den wenigen Seiten gelesen habe. Jedenfalls braucht sie einen regen gedanklichen Austausch mit Gleich- oder Ähnlich-Gesinnten. Und es kann hilfreich sein, wenn du ihr das auch zugestehen kannst und das auch aussprechen kannst.
Es kann für dich sehr hilfreich sein, wenn du dieses Bild von der Insel mal aufnimmst und konkretisierst. Und dann entsteht vielleicht auch ein neues und farbiges Bild von deiner eigenen Ich-Insel. Wenn Jennifer die ebenso gut akzeptieren kann, wie du ihre Insel respektierst, kommt vielleicht insgesamt wieder etwas mehr Respekt in eure angeschlagene Beziehung. Und deine guten Gefühle seit dem letzten Coaching gehören auf DEINE Insel. Du musst die nicht gleich auf die Wir-Insel schleppen, dort verteidigen und dich wieder mal rechtfertigen. Du musst dich überhaupt weniger rechtfertigen, denn bei jeder Rechtfertigung wird das Kind in uns wieder lebendig und man fühlt sich klein und unterlegen.
Bei zwei gleich wichtigen Inseln spielt auch die Machtproblematik vielleicht nicht mehr eine so große Rolle. Machtbedürfnis und Machtausübung gehört unbedingt in jede Beziehung. da geht es nicht ohne. Aber wenn man das klug uns ausgewogen macht und die Insel zum Rückzug nutzt muss es dabei keine Gewinner und Verlierer geben.
Ich glaube also, dass ihr beiden noch echte Chancen habt auf eine gute und liebevolle Beziehung, allerdings ist es dann wohl eine sehr unkonventionelle Beziehung, an der immer wieder geschraubt werden muss. Und wenn die Frage von S. und Leidenschaft für lange Zeit oder gar für immer ungeklärt bleibt, kann das unangenehme Folgen haben. aber alles zu seiner Zeit.
Ich hoffe, ich konnte dir ein paar neue Gedanken an die Hand geben. Herzliche Grüße vom Neuen im Forum
04.02.2019 12:40 •
#246