Hallo!
Mich erinnert diese Frage an das gelebte (tatsächliche) Christentum. Viele, die überwiegende Mehrzahl, bekennen sich zum Christentum, gehen vielleicht auch in die Kirche, beten, können sogar aus der Bibel zitieren - und haben doch so gar nichts Christliches an sich, sondern sind oft sogar das glatte Gegenteil davon. Was sie selber aber durchaus nicht von der Überzeugung abbringt, gute Christen zu sein.
Mit der Liebe sehe ich es ganz ähnlich. Alle reden zwar von Liebe, so verkorkst können sie gar nicht sein, aber es ist weit und breit von Liebe nichts zu sehen, nicht einmal zu ahnen.
Was man tatsächlich sieht, ist zunächst diese Verliebtheit, dieser Rausch, der vorübergehend sogar tolerant, großzügig, charmant, verständnisvoll, entgegenkommend, liebenswert macht. Was man nach Abklingen dieses Zustandes allerdings sieht (falls die Beziehung dann nicht gleich zerbricht), macht in den meisten Fällen nicht mehr den Eindruck von Liebe, sondern vielmehr vom Stockholm-Syndrom.
Insgesamt scheint es so, daß zunächst das Ego von der Liebe überwältigt wird, dann die Liebe vom Ego.
Worauf es also ankommen wird, wird sein, wir stark, tief, wahrhaftig ist die Liebe und wie ist das Ego gestrickt. Bei manchen reicht die Liebe bis in den Himmel, bei den meisten jedoch das Ego mit all seinen Ansprüchen und Verletzlichkeiten.
Tatsächlich müßte es ja so sein, daß Liebe den anderen nur glücklich sehen will. Aber tut sie das? Z. B. im Fall eines Seitensprungs? Und vielleicht gar noch, wenn jener sagt, das sei das schönste Erlebnis gewesen, das er je hatte? Hätte er den Kilimandscharo bestiegen, wäre es noch etwas anderes gewesen, dann hätte man sich vielleicht mitgefreut und wäre mit glücklich gewesen.
Mir kommt also vor, daß die meisten Lieben an der Kleinkariertheit des Egos scheitern, daß auch kaum überhaupt jemand ernst macht mit der Liebe (auch wenn es ihm selber so vorkommt, wie eben dem Christen sein Christsein). Alles verkommt früher oder später zu einem Liebes-Schauspiel - und auch das nur im günstigen Fall. Und weil das eben der allgemeine Zustand ist, fällt er auch gar nicht weiter auf. Man erwartet von der Liebe insgeheim offenbar gar nichts anderes, als daß sie irgendwann davonfliegt, und kümmert sich auch gar nicht um sie - Hauptsache, der andere bleibt picken und fliegt nicht mit ihr davon.
Ich hingegen meine, soll es mit der Liebe anders enden als in einem Schauspiel oder der Trennung, dann müssen sich beide hinfallen lassen in die Liebe ohne Wenn und Aber, das Interesse am anderen behalten, auch bereit sein, einmal durch die Wüste zu gehen (oder auch einige Male), mit dem anderen im wahrsten Sinne des Wortes in Beziehung zu bleiben, im Austausch. Aber das hat natürlich wahrhaftige Liebe zur Voraussetzung, und oft mangelt es ja schon daran. Geht es nämlich schon am Anfang eigentlich nur um Bedürftigkeiten, Vorteile, Bequemlichkeiten, Wunscherfüllungen, Nöte usw., also um durchaus egoistische Motive, dann wird die Liebe schon von vornherein nicht weit kommen.
Man wird also durchaus sorgfältig darauf achten müssen, ob man wirklich am Meer steht oder doch nur an einer Pfütze. Gerade am Anfang, wenn die Augen noch groß und übervoll sind, kann man sich darüber ziemlich täuschen.
Ich glaube also, diese wahre Liebe ist etwas ausgesprochen Seltenes. Aber wenn sie es ist, dann wird auch das Ego schweigsamer und duldsamer. Nicht zuletzt, weil es es sich durch nichts mehr selber erkennen kann als in der Liebe und durch nichts mehr lernen kann. Was allerdings manches störrisches und selbstgefälliges Ego vielleicht ja gar nicht will ...
Liebe Grüße
30.05.2016 01:20 •
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