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Ich will leiden und kann es nicht

Tukan
Guten Morgen Forum

Ich kenne euer Forum schon länger, habe mich aber erst jetzt angemeldet.

Ich bin eigentlich ein Mensch mit einem sehr ausgeprägten Selbstbewusstsein, obwohl ich keineswegs extrovertiert bin. Ich bin gerne alleine, weil ich zu viel Nähe (nicht mehr) wirklich ertrage. Ein Freund von mir ist vor einigen Jahren zu jung an akutem Blutkrebs gestorben, der andere liegt seit sechs Jahren im Wachkoma. Das sind Dinge, die mich dauerhaft verändert haben. Ich habe große Angst vor Verlustangst und lasse deshalb Freundschaften und Beziehungen nicht schnell zu bzw. versuche, eine gewisse Distanz zu wahren.

Ich lebe seit neun Jahren alleine. Die Jahre waren anfangs sehr schwierig. Ich habe bestimmt vier Jahre gebraucht, um damit fertig zu werden. Es gab zwischendurch die eine oder andere nicht positiv verlaufende Beziehung. Seit etwa zwei bis drei Jahren bin ich jedoch völlig alleine, also auch ohne Beziehung. Und tatsächlich sind das die Jahre, die ich eigentlich am positivsten in Erinnerung habe. Ich hatte nie das Gefühl, einsam zu sein. Ich wollte keine Beziehung, ich hatte kein Bedürfnis nach Nähe, nicht einmal ein 6uelles Interesse. Keine Dating-Apps, keine sozialen Medien, kein nächtliches Ausgehen, um jemanden kennen zu lernen. Meine wenigen guten Freundschaften, die ich habe, reichten mir als soziale Interaktion. Ich hatte einfach kein Interesse mehr.

Vor dreieinhalb Monaten lerne ich jedoch eine Frau kennen Wir haben in der Zeit - bis heute - nicht einen einzigen Konflikt gehabt, weil sie immer sehr offen und respektvoll mir gegenüber war und natürlich auch umgekehrt Ich konnte mit meiner Verlustangst umgehen, ich habe mich langsam geöffnet. Niemand hat Besitzwillen ergriffen, keine Eifersucht, keine freiheitsentziehenden Anhänglichkeiten. Einfach all das, was ich vorher sonst kannte, gab es zwischen uns nicht. Außer dass wir etwas zu wenig telefoniert haben, weil ich ein alter Handy-Muffel bin.

Doch vor etwa zwei Wochen hat sie begonnen, sich zurückziehen. Nicht, weil sie sich ihrer Gefühle unklar ist, sondern weil ihre Depressionen überhandgenommen haben. Wir haben darüber gesprochen und es wundert mich auch nicht, dass jemand, der daran leidet, anfängt, sich zu isolieren und zurückzuziehen Ich wusste davon, weil sie mir anfangs davon erzählt hat, aber wir wussten wohl beide nicht, dass diese Phase (für sie) noch lange nicht überstanden ist. Liebe heilt eben keine Depressionen.

Mein Problem ist, dass ich wahnsinnig darunter leide, dass ich unfähig bin, zu leiden Es fällt mir so unglaublich schwer, darüber zu weinen, dass mir einerseits der Kontakt fehlt und weil ich mir andererseits Sorgen um sie mache. Ich will trauern können und kann es nicht. Ich weiß, dass ich traurig bin, ich spüre den Druck. Ich habe mittlerweile selbst Angst, dass sich daraus bei mir eine Depression entwickelt. Dabei habe ich das Recht, traurig zu sein und zu weinen, weil ich ein Mensch bin und weil sie mir wichtig ist Ich bin nicht kalt, ich weiß nicht nur, dass sie mir wichtig ist, ich fühle es auch. Darum verstehe ich nicht, dass es mir so unglaublich schwer fällt, zu trauern. Manchmal kommt es mir so vor, ich hätte in meinem Leben so viel getrauert, dass ich einfach nicht mehr trauern kann

Das ist mein eigentliches Problem. Ich habe keine Angst sie zu verlieren. Wenn es mit uns nicht klappt, dann wäre das für mich kein Weltuntergang, denn ich schätze sie so oder so. Traurig wäre ich. Aber das bin ich jetzt schon.

LG, Tukan

31.08.2020 08:47 • x 1 #1


Heffalump
Zitat von Tukan:
dass ich wahnsinnig darunter leide, dass ich unfähig bin, zu leiden

Ein Widerspruch ins sich.

Trauer muss nicht Tränen und zügelloses Weinen sein. Nimmt deine Freundin Medikamente, befindet sie sich in Professionelen Händen? Du kannst ihr beistehen, ohne sie zu viel zu belasten. Lies Dich ein, um ihr ein guter Freund in schwerer Zeit zu sein.
Nur weil sie sich zurück zieht, musst du es nicht auch tun.

31.08.2020 08:58 • x 3 #2


A


Ich will leiden und kann es nicht

x 3


Gwenwhyfar
Hallo Tukan,

mir fällt ehrlich gesagt nicht viel dazu ein. Kann es sein, dass Du Deine Gefühle schon lange verdrängt und weggeschlossen hast, um nicht leiden zu müssen?

Bist Du Dir wirklich sicher, dass Du eine Frau mit Depressionen, die offenbar nicht gut eingestellt ist, händeln kannst? Ist sie überhaupt in Therapie? Gerade mit Deiner Geschichte, weiß ich wirklich nicht, ob ein Bauchklatscher für Dich so gut wäre.

Ich kann auch gut alleine und war lange alleine und weiß wie sehr einen eine Liebe runter reißen kann.

31.08.2020 09:01 • x 1 #3


Tukan
Danke für eure Antworten!

T4U: Es ist deshalb kein Widerspruch für mich, weil ich nur unglaubliche Schwere und Druck verspüre. Ich verspüre nicht diese offene und ehrliche Trauer mir selbst gegenüber. Ich habe in der Vergangenheit oft getrauert und weiß deshalb, was normal für mich ist. Aber meine derzeitige Situation ist wie ein Eingefrorensein. Ich fühlte mich immer stark, jahrelang, aber momentan fühle ich mich antriebslos. Das geht alles in Richtung depressive Verstimmung und ich habe wie gesagt Angst, dass daraus eine Depression werden könnte.

Gwenwhyfar:
Zitat:
mir fällt ehrlich gesagt nicht viel dazu ein. Kann es sein, dass Du Deine Gefühle schon lange verdrängt und weggeschlossen hast, um nicht leiden zu müssen?

Ich habe Beziehungen gemieden, um nicht mehr leiden zu müssen, weil ich davor tatsächlich meine Gefühle verdrängt hatte, und das über viele Jahre. Ich hatte versucht, soweit es geht, meine bestehenden Freundschaften zu pflegen. Diese Freundschaften habe ich auch bis heute. Habe mich lange Zeit nur mit mir selbst befasst und mich von Dingen/Personen getrennt, die mir nicht gut taten. Die Folge war, dass ich plötzlich trauern konnte über all das, was war. Und die Folge waren wirklich sehr glückliche Jahre, auch völlig alleine. Ich konnte plötzlich wieder meine Traurigkeit vor mir selbst zeigen, ehrlich zu mir selbst sein. Empathisch sein. Alles Dinge, die mir fehlten.

Vor einem Jahr starb mein 12 Jahre alter Hund. Und leider war ich zu dem Zeitpunkt nicht wirklich in der Lage, zu trauern, weil meine Familie nicht wirklich so zurecht kam mit dem Todesfall, mit dem Einschläfern. Ich habe diese Trauer verdrängt, obwohl ich das eigentlich nachholen wollte. Seit diesem Zeitpunkt bin ich gewissermaßen in das alte Verhaltensmuster zurückgefallen, obwohl ich über einen langen Zeitraum kein Problem hatte, zu trauern (es passieren ja immer wieder Dinge in der eigenen Familie oder im Umfeld, die einen traurig machen).

Zitat:
Bist Du Dir wirklich sicher, dass Du eine Frau mit Depressionen, die offenbar nicht gut eingestellt ist, händeln kannst

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das nicht kann, weil sie meine angebotene Hilfe (da für sie zu sein, zu sprechen) nicht in Anspruch nimmt und ich das auch nicht erzwinge.

Zitat:
Ist sie überhaupt in Therapie? Gerade mit Deiner Geschichte, weiß ich wirklich nicht, ob ein Bauchklatscher für Dich so gut wäre.

Nein, leider nicht. Was meinst Du mit Bauchklatscher?

Ich habe ehrlich gesagt darüber nachgedacht, mich selbst zurückzuziehen und mich um mich selbst zu kümmern, zumal sie meine Hilfe nicht in Anspruch nehmen kann oder will - was ich ihr nicht anlaste -, weil ich die Situation so nicht wirklich ertragen kann. Wir haben auch darüber gesprochen und sie versteht es. Doch es bleibt nach wie vor mein Problem, nur schwer trauern zu können, das Ganze ist in mir eingefroren.

31.08.2020 09:15 • #4


A
Zitat von Tukan:
. Darum verstehe ich nicht, dass es mir so unglaublich schwer fällt, zu trauern. Manchmal kommt es mir so vor, ich hätte in meinem Leben so viel getrauert, dass ich einfach nicht mehr trauern kann

Auch mir fällt es unglaublich schwer zu trauern, auch kann ich gut allein zu sein. Ich fühle mich dann ebenfalls nicht einsam, und ich weine auch niemandem hinterher. Wenn Schluss ist, ist Schluss.
Mir wird Härte nachgesagt...vielleicht ist das so...vielleicht hat das Leben, die Erfahrungen, die ich machen musste, mich hart gemacht.
Ich kann auch gut verstehen, dass du dich nun zurückhälst, nachdem sie sich zurückgezogen hat. Ich laufe niemandem hinterher. Mich würde es auch nicht traurig machen.
Ich habe auch nicht trauern können, als mein Mann verstarb. Ich suchte ebenfalls nach Gründen....ich denke inzwischen, es ist, wie es ist.
Mir geht es alleine gut, ich fühle mich frei.

31.08.2020 09:17 • x 1 #5


Gwenwhyfar
Bauchklatscher meint, dass diese Bekanntschaft schief geht.

Danke für Deine sehr offene Antwort. Da steht viel, was auch viel beantwortet.

Magst Du vielleicht auch mal mit einem Profi sprechen? Ich habe so das Gefühl, dass ein Forum da nicht reicht, weil Deine Gefühle mir doch tiefer weg geschlossen scheinen.

31.08.2020 09:24 • x 1 #6


Tukan
Gwenwhyfar:

Zu meiner Vorgeschichte muss ich noch sagen, dass ich mehrere Jahre unter Depressionen litt, die anfingen, als ich ein schweres Medikament nehmen musste, das leider entsprechende Nebenwirkungen hatte. Natürlich muss das nicht der (einzige) Grund sein, immerhin habe ich auch über Jahre meine Gefühle unterdrückt, aber es war sehr auffällig. Es hat Jahre gedauert und einer Therapie bedurft, bis ich das im Griff hatte.

Danach war ich, die letzten Jahre, wie soll man sagen: Ich war der Mann, dem bei einem traurigen Film recht schnell die Tränen kamen. Das war für mich auch gewissermaßen der Ausgleich vom Job, in dem ich eher dominant sein muss. Empathie und Gefühle zeigen zu können ist für mich wichtig. Ich fühlte mich die letzten Jahre immer zufrieden bis glücklich, natürlich gab es auch Tage, die anstrengend waren; dann ging ich verfrüht ins Bett und habe etwas geträumt. Ich bin auch nach wie vor in einer sehr guten beruflichen Situation, habe das Rauchen vor Jahren aufgegeben, meine Schulden nach acht Jahren fast abbezahlt, fühlte mich nicht einsam, habe viele unterschiedliche Hobbys, einfach Freude am Leben. Das klingt vielleicht sogar zu gut, aber so habe ich mich - eigentlich ist das heute noch so - all die letzten Jahre gefühlt. Es war einfach fantastisch und kein Vergleich zu früher.

Ich habe eigentlich nichts in meinem Leben zu beklagen, außer, dass mein Hund, an dem ich sehr hing, gestorben ist. Und dass ich momentan ein riesiges Problem habe, (auch darüber) zu trauern

Zitat:
Bauchklatscher meint, dass diese Bekanntschaft schief geht.

Sagen wir es so: Sie und ich haben schon anfangs übereinstimmend klar gemacht, dass wir nichts erzwingen wollen. Meine Gefühle für sie haben sich deutlich gesteigert, aber ich fühle nicht, dass ich unendlich an ihr hänge oder Ähnliches. Dafür bin ich wohl zu lange alleine. Es ist mehr als nur mögen, aber es ist keine Liebe. Es überwiegt, dass ich sie sehr mag und dass ich eigentlich glücklich bin, so einen lieben und respektvollen Menschen kennengelernt zu haben, das macht einfach Schmetterlinge im Bauch

31.08.2020 09:35 • #7


A
Zitat von Tukan:
Es ist mehr als nur mögen, aber es ist keine Liebe.

Was ist denn Liebe?

31.08.2020 09:38 • #8


Tukan
Zitat von Angi2:
Was ist denn Liebe?

Das ist natürlich richtig. Liebe ist Liebe ist Liebe, das kann vieles sein oder auch nicht.

31.08.2020 09:40 • x 1 #9


A
Zitat von Tukan:
Liebe, das kann vieles sein oder auch nicht.

Ist das Liebe, wenn ich mit jemandem unbedingt in die Kiste steigen möchte?
Ist das Liebe, wenn ich mich für jemanden verantwortlich fühle?
Ist das Liebe, wenn ich mit jemanden gerne zusammen bin?

31.08.2020 09:51 • #10


E
Zitat von Tukan:
Mein Problem ist, dass ich wahnsinnig darunter leide, dass ich unfähig bin, zu leiden Es fällt mir so unglaublich schwer, darüber zu weinen, dass mir einerseits der Kontakt fehlt und weil ich mir andererseits Sorgen um sie mache. Ich will trauern können und kann es nicht. Ich weiß, dass ich traurig bin, ich spüre den Druck. Ich habe mittlerweile selbst Angst, dass sich daraus bei mir eine Depression entwickelt. Dabei habe ich das Recht, traurig zu sein und zu weinen, weil ich ein Mensch bin und weil sie mir wichtig ist Ich bin nicht kalt, ich weiß nicht nur, dass sie mir wichtig ist, ich fühle es auch. Darum verstehe ich nicht, dass es mir so unglaublich schwer fällt, zu trauern. Manchmal kommt es mir so vor, ich hätte in meinem Leben so viel getrauert, dass ich einfach nicht mehr trauern kann

Hey, ein trauriges Willkommen in diesem Forum,
magst Du mal genau sagen, was Du empfindest? Wie macht sich dieses Nichts fühlen bemerkbar?

31.08.2020 09:53 • x 1 #11


A
Zitat von Mira_:
Wie macht sich dieses Nichts fühlen bemerkbar?


Ich muss gerade schmunzeln....wie macht sich bei dir nichts fühlen bemerkbar, liebe Mira?
Ich bin zwar nicht Tukan, ich antworte trotzdem mal.
Man weiß, dass man in diesem Moment traurig sein müsste, fühlt aber keine Traurigkeit. Man weiß, dass man diesen Menschen nun lieben müsste, weil die Situation es zeigt, weil die Sympathien vorhanden sind, aber man fühlt keine Liebe.

Man kennt die Gefühle, man fühl sie nicht!

31.08.2020 09:59 • #12


Heffalump
Zitat von Tukan:
wie ein Eingefrorensein.

Kann auch stark auf Depression deuten.

31.08.2020 10:04 • x 2 #13


A
Zitat von T4U:
Kann auch stark auf Depression deuten.

Dieses Gefühl von Eingefrorensein könnte auf ein traumatisches Erlebnis zurückzuführen sein....bei mir jedenfalls ging ein traumatisches Erlebnis voraus.

31.08.2020 10:11 • x 2 #14


E
Ohne die Geschichte weiter zu kommentieren, bei mir gibt es ein Mittel, wenn ich traurig bin und nicht weinen kann. Dann kippe ich mir 2 Cola Rum hinter die Binde und dann öffnen sich die Schleusen von ganz alleine
Alleine schon dadurch bedingt, dass ich sonst so gut wie nie Alk. trinke.

31.08.2020 10:19 • #15


A


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