Naja, geht mal nicht zu hart mit der TE ins Gericht. Ich kann das bis zu einem gewissen Grad schon verstehen. Da fängt man eine harmlose lustige Plauderei an, da ist plötzlich ein interessanter (weil auch als Kanadier exotischer) Mensch, der sich für einen interessiert, irgendwann hat man einen schlechten Tag und erzählt im Schutze der Anonymität immer mehr von sich, man schüttet sein Herz aus, der andere fragt auch am nächsten Tag, wie es einen geht, man gewöhnt sich an die Nachrichten und freut sich, wenn das Handy piepst, hat ausgemachte Chat-Meetings, die zum fixen Tagesplan dazugehören und so weiter und so fort. Irgendwann sitzt man dann mit Pickeln und fettigen Haaren in der Jogginghose in der unaufgeräumten Wohnung - und der andere schwärmt dennoch, wie toll und attraktiv und super man ist. Bestätigung, Phantasie, Befriedigung auf Abruf. Tintin hat das mal mit Prost. verglichen - und das ist gar nicht so falsch.
Ein Freund von mir hat seit über zehn Jahren eine Stalkerin, sie hat ihn immerhin 4-5 mal gesehen. Aber natürlich kaum eine Ahnung, wer er wirklich ist, wie er wirklich tickt, etc. Sie liest seine Geschichten (Schriftsteller), und meint dadurch, ihn zu kennen und zu lieben. Phantasiert sich eben in einen Traummann hinein, malt sich ein gemeinsames Leben aus. Ähnliches Muster. Zudem ist man ja auch etwas besonderes mit seiner ach so außergewöhnlichen Liebesgeschichte im Freundeskreis, mit dem ungewöhnlichen Mann, der eben kein Dieter ist, mit der man sich in Hollywood-Happy-Ends reinsteigern kann, bei denen sich nach rasanter Autofahrt alle am Flughafen in den Armen liegen, oder die Flaschenpost über den Ozean die einzig wahre Liebe brachte. Wie schön das doch wäre, selbst diese tolle Kennenlerngeschichte mit Happy End zum besten geben zu können und in diesen Märchenclub aufgenommen zu werden.
Mir fiel grad ein, als diese Partnersuch-Plattformen aufkamen - noch lange vor Tinder - hab ich das mal ausprobiert. Ich schrieb mit einem Typen etwas länger, weil wir uns aus irgendeinem Grund, an den ich mich nicht mehr erinnere, nicht gleich sehen konnten. Und es war schon fein, so einen Austausch zu haben, piepspieps, jemand denkt an dich und verliebt sich gerade in dich, bla bla. Dann trafen wir uns - und ich war komplett abgeturned. Seine näselnde Stimme, seine spitzmäusigen kalten Augen, sein Körpergeruch (obwohl gepflegt), seine bleiche wächserne Hautstruktur (so komisch das klingen mag). Zudem war er ein ziemlicher Langweiler, das merkt man beim Chat eben nicht (auch nicht bei den paar Telefonaten, da hatte er eben eher Fragen an mich gestellt). Und natürlich wollte er sofort mit mir ins Bett. Hab ihn dann schnell verabschiedet und war amüsiert, was man sich für Konstrukte baut. Ich war allerdings nicht in ihn verliebt, und wäre auch nicht mit ihm zusammengekommen, wenn ich ihn nur vom Chat kenne. Liebe oder verliebt sein heißt für mich, einen Mann auch berühren zu wollen, dafür muss ich auch wissen, ob ich ihn riechen kann. Ich muss in seine Augen als Spiegel der Seele blicken können. Und die anderen kleinen unterbewussten Signale, die mich erkennen lassen, ob ich mit dem Mann zum Paarungsakt schreiten will. Das ist evolutionär bedingt und läuft innerhalb von Millisekunden ab - und da reichen nun mal keine Liebesbriefchen. Alles andere ist Bedürfnisbefriedigung auf Basis der Phantasie. Wie kleine Mädchen mit Ken Hochzeit spielen. Da kann man sich schon sehr verlieren darin. Und das kann man auch vermissen und als Ersatzbefriedigung für einsame Stunden nutzen - wie Wandler bewies, Jahrzehnte lang. Auch ein Lebensweg. Man sollte sich nur wirklich überlegen, ob man den auch tatsächlich gehen will. Es ist praktisch, es ist safe, es ist natürlich auch besonders, und niemand passt so genau zu einem wie der Ken aus den eigenen Träumen. Das ist Bedürfnisbefriedigung unter der Käseglocke, aber so wirkliches Leben und lieben ist das eben nicht.
27.03.2018 11:00 •
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