Hey Murmeltier,
ich gebe Hola so ziemlich recht, in deinem Kopf scheint es um Rechthaben und um Schuld zu gehen. Und vielleicht wäre das tatsächlich der Weg raus. In meinem Kopf gibt die eine Wahrheit nicht, folglich auch nicht das Rechthaben. Und das mit der Schuld ist auch komplexer.
Ich möchte auch gar nicht deine Gedanken in Frage stellen, der Punkt ist, wenn du selber merkst, dass diese Gedanken dein Leiden eher verlängern, dann hängst du offenbar in der Sackgasse. Du musst also radikal deine Perspektive ändern, dich umdrehen.
Also...
Die Frage eins ist, warum laufen Kinder aus dem Ruder? Kann man in jedem Fall verhindern, dass Kinder aus dem Ruder laufen? Sind jedesmal die Eltern schuld, wenn das Kind aus dem Ruder läuft? Wie verhindert man, dass Kinder aus dem Ruder laufen? Was brauchen Kinder, um glücklich und entspannt aufzuwachsen? Welche Rolle spielt z.B. das Schulsystem? Was sind in deinen Augen die entscheidenden Stellschrauben? Was qualifiziert dich als ultimativen Erziehungsberater?
Vielleicht merkst du schon, dass das eben keine Dinge sind, die sich so einfach beantworten lassen. Aus meiner persönlichen Erfahrung: Mein Bruder (und bis zu einem gewissen Grad auch ich) war so ein Kind, das auch lange aus dem Ruder gelaufen ist. Meine Mutter hatte nicht viel zu sagen, und meinem Vater ist in diesen Momenten nur eingefallen, die Daumenschrauben anzuziehen. War zutiefst enttäuscht, als das Gymnasium mit dem härtesten Ruf, auf das man meinen Bruder genau aus diesem Grund geschickt hat, es auch nicht richten konnte.
Frage Nummer zwei: Wie hilft man Menschen? Ich rede hier von Partnern und Kindern. Indem man ihnen den richtigen Weg zeigt, und dann permanent den Druck erhöht, diesen Weg auch zu gehen? Bis der Mensch nur noch die Möglichkit hat, dem Druck nachzugeben, koste es was es wolle, oder die Situation zu verlassen? Was ist der Unterschied, ob man einem Kind, oder ob man einem Partner helfen möchte? Kann man einem Menschen überhaupt helfen? Wie geht man damit um, wenn die Hilfe nicht ankommt? Was könnte es für Gründe geben, dass die Hilfe nicht ankommt? Was bedeutet es für die Paardynamik, wenn einer helfen will? Wie konnten dir Menschen in schwierigen Situationen bisher helfen? Glaubst du, dass verschiedene Menschen verschiedene Arten von Hilfe brauchen? Glaubst du, dass jeder Mensch, jedem anderen Helfen kann? Wenn du Schwierigkeiten hattest, wie haben dir deine Eltern geholfen? Wurde dir erlaubt, deinen eigenen Weg zu finden, und wurdest du in diesem Weg bestärkt?
Aus der Geschichte meines Bruders: Die Punkte in seinem Leben, wo mein Bruder wirklich weitergekommen sind, waren die Augenblicke, wo er für eine gewisse Zeit einen Mentor gefunden hat. In der Kollegstufe einen Deutschlehrer, später einen Chorleiter, gerade einen Chef.
Aus meiner Sicht: Mein Freund macht mich wahnsinnig, wenn er mir Erziehungsratschläge geben will. Ist n bisschen krasser als bei dir, weil er nicht mal Kinder hat. Und ich habe ja Gründe, warum ich genau so handel, wie ich es tue. Manche sind gut, manche schlecht, manche liegen in mir, manche in meinen Kindern, manche bewußt, manche unbewußt... Manche liegen in meinen Werten, die sich vielleicht auch mal mit den Werten der Gesellschaft nicht so gut vertragen... Was mir wirklich hilft, ist, wenn jemand mich auffängt, sich meine Gründe und meine Zweifel anhört, mich daran erinnert, dass ich mein bestes gebe.
Dritte Frage: Was ergibt sich dadurch für eine Paardynamik? Was sind die Rechte, Pflichten, Möglichkeiten eines Patchworkvaters? Wie ist das mit dem Respekt? Verspielt man sich den Respekt des anderen, oder ist nicht vielmehr der andere schuld, der den Respekt verliert? Wann genau verliert man den Respekt? Wie ist es mit der Augenhöhe, wenn einer dauernd etwas falsch macht?
Von außen betrachtet scheint man die Dynamik zwischen euch auf folgenden Punkt bringen zu können: In deinen Augen hat sie in der Erziehung viele Fehler gemacht, und du wolltest sie als Mutter stärken. Leider hast du sie durch Kritik und Druck vermutlich eher geschwächt, und als Partnerin von dir weggetrieben.
Vierter und letzter Fragenkomplex: Wie gehst du mit Fehlern um? Muss man fehlerfrei sein, um Respekt zu verdienen? Verliert jemand, der gerade scheitert, keinen Respekt für sein Bemühen? Wie gehst du damit um, dass du darin gescheitert bist, deiner Partnerin und ihrem Kind zu helfen? Fühlst du dich respektiert, wenn deine Partnerin deine Vorschläge nicht umsetzt? Wie wurde in deiner Herkunftsfamilie mit Scheitern und Felhern umgegangen? (In unserer Familie ziemlich katastrophal.) Was muss man alles unter Kontrolle haben? Kann man alles unter Kontrolle haben?
Ok, ist wieder mal ein Roman geworden. Lass mich wissen, ob du was damit anfangen kannst.
Liebe Grüße von der Drachin