Ich finde die Richtung, in die sich dieses Thema gerade bewegt, ziemlich merkwürdig.
Jan erkennt ziemlich selbstkritisch und korrekt, dass er in vielen Situationen nicht frei reagieren kann, sondern irgendwelche alten, eher weniger nützlichen Programme fährt. Dass er das aber, obwohl er es erkannt hat, leider (bisher) nicht steuern kann.
Ja, fantastisch! Ich kann für mich sagen, dass das für mich genauso zutrifft, dass es nach wie vor eine tägliche Herausforderung ist, diese Programme zu identifizieren und mich davon zu befreien. Dass ich fast jeden Tag irgendwann feststelle: Hier ist es wieder passiert, ich bin ein Programm gefahren, hab andere verletzt, bevor ich auch nur einen Moment nachdenken konnte. Und manchmal gelingt es, manchmal komme ich dem einen oder anderen Programm auf die Spur, und kann freier reagieren.
Und manchmal weiß ich ganz genau, welches Programm ich fahre, und kann es trotzdem nicht abbrechen.
Plus: Ich kenne keinen einzigen Menschen bei dem das anders wäre. Höchstens in unterschiedlicher Ausprägung.
Plus: Ich kenne sehr viele Menschen, die das ihr ganzes Leben lang nicht begreifen. Die ihr Handeln immer als rational und sinnvoll hinstellen. Die immer den anderen die Schuld an den Gefühlen geben, die in ihnen ausgelöst werden.
Jan, du bist in meinen Augen auf einem tollen Weg. Geh ihn weiter. Er ist sehr mühsam, aber sehr lohnend. Wenn du das soweit für dich erkannt hast, bist du in meinem Augen beziehungsfähiger, als manche Menschen, die immer denken, ihr Handeln wäre rational.
Was mir mit meinen Programmen hilft:
Es gelingt leider sehr selten, die Situation zu verlassen, wenn das Programm schon läuft. Man kann sich aber immer hinterher entschuldigen. Und dem anderen so gut es geht, erklären, was da in einem vorgegangen ist. Wohlgemerkt, ohne vom anderen zu verlangen, dieses Verhalten nicht mehr zu zeigen. Das wird die Verletzungen für die andere Person zwar nicht ganz verhindern können, aber zumindest minimieren.
Wenn ich schon ahne, dass es problematisch werden könnte, kommuniziere ich gerne schriftlich. Auch wenn es manchmal indiskret ist, gibt es ein paar wichtige Menschen, die über solche Schriftstücke drüberschauen, und mir sagen, wo ich interpretiere, und wie meine Formulierungen wirken.
Eine Technik, mit der meine Psychotherapeutin arbeitet, die ich aber leider immer noch eher selten alleine anwenden kann, ist, vom körperlichen Ausdruck des Gefühls auszugehen (Druck auf der Brust, würgen im Hals, Toben im Bauch...) Wenn es gelingt, ganz bei diesem Gefühl zu bleiben, ohne Interpretation, tauchen oft die passenden Bilder, z.B. aus der Kinheit auf.
Ein eher oberflächlicher aber machmal ausreichender Weg ist es, sich klar zu machen, welches Bedürfnis hinter einer Reaktion steckt. Dann kann man versuchen, das Bedürfnis direkt zu befriedigen.
Simples Beispiel: Ich schreie oft meine Kinder an, wenn von mehreren Seiten gleichzeitig auf mich eingeredet wird. Erster Impuls danach ist natürlich, meinen Kindern die Schuld zu geben, die wissen doch, dass ich das nicht ab kann, und überhaupt, es ist doch total unhöflich, in eine Unterhaltung zu platzen, hab ich ihnen das nicht schon 100.000 mal gesagt?!?
Jetzt kann ich diesem Kochen in den Eingeweiden nachgehen, und feststellen, dass ich das aus meiner Kindheit kenne, wenn ich was tun sollte, worauf ich absolut keine Lust hatte, was ich als sinnlos angesehen gabe, wo ich aber nicht ausgekommen bin, sprich, wenn irgendwelche Erwartungen an mich herangetragen wurden. Bin ich einen Schritt weiter. Ich bin kein KInd mehr, und meine Kinder dürfen meine Aufmerksamkeit erwarten.
Oder lernen, dass diese Hilflosigkeit, und diese Reue, wenn ich meine Kinder angeschrien habe, empfinde, weil ich von meinem Vater genau weiß, wie zerstörerisch Wutanfälle für Kinder sind. Also fahre ich erst mal das Programm, das mein Vater immer gefahren ist, und gebe allen anderen die Schuld. Wenn ich die Stoptaste drücken kann, kann ich mich bei meinen Kindern entschuldigen, ihnen sagen, dass sie nicht falsch sind, und sie bitten, einer nach dem anderen zu reden.
Oder ich kann nach meinen Bedürfnissen schauen. z.B. komme ich mit viel Input und Lärm um mich rum nicht klar. Wenn ich das weiß, kann ich mich zurückziehen, sobald der Stresslevel zu sehr steigt, sprich meine Bedürfnis nach Ruhe mir selber erfüllen.
Und dann ist es natürlich eine gute Übung, solche Situationen einfach mal auszuhalten. Gefühle kommen und gehen. Sie können sehr mächtig sein, aber sie vergehen auch wieder. Nicht überbewerten.
30.12.2020 11:39 •
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