Im Jahr 1897 schrieb Virgina O'Hanlon den folgenden Brief an die Tageszeitung, die ihre Eltern lasen, die New York Sun:
Ich bin acht Jahre alt. Einige von meinen Freunden sagen, es gibt keinen Weihnachtsmann. Papa sagt, was in der Sun steht, ist immer wahr. Bitte sagen Sie mir: Gibt es einen Weihnachtsmann? Virginia O'Hanlon
Virginias Brief gelangte in die Hände des Redakteurs Francis P. Church. Er war der Sohn eines Baptistenpredigers und hatte für die New York Times aus dem Bürgerkrieg berichtet. Church war eigentlich ein etwas boshafter Mensch, der seinem persönlichen Motto Strebe danach, deinen Geist frei von Heuchelei zu halten folgte. Wenn es darum ging, im Editorial kontroverse Themen zu behandeln, speziell wenn sie mit Theologie zu tun hatten, war üblicherweise Church zuständig.
Jetzt hatte er es mit dem Brief eines kleinen Mädchens zu tun, in dem es um eine hochkontroverse Frage ging, und er trug die Verantwortung, diesen Brief zu erwidern.
Die Antwort, die Church auf Virginias Anfrage schrieb, wurde eines der berühmtesten Editorials, die jemals geschrieben wurden. Es wurde jedes Jahr aufs Neue gedruckt, bis die Zeitung im Jahr 1949 ihr Erscheinen einstellte.
Virginia, Deine kleinen Freunde haben nicht recht. Sie glauben nur, was sie sehen; sie glauben, daß es nicht geben kann, was sie mit ihrem kleinen Geist nicht erfassen können. Aller Menschengeist ist klein, ob er nun einem Erwachsenen oder einem Kind gehört. Im Weltall verliert er sich wie ein winziges Insekt. Solcher Ameisenverstand reicht nicht aus, die ganze Wahrheit zu erfassen und zu begreifen.
Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Es gibt ihn so gewiß wie die Liebe und Großherzigkeit und Treue. Weil es all das gibt, kann unser Leben schön und heiter sein. Wie dunkel wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe! Es gäbe dann auch keine Virginia, keinen Glauben, keine Poesie - gar nichts, was das Leben erträglich machte. Ein Flackerrest an sichtbarem Schönen bliebe übrig. Aber das Licht der Kindheit, das die Welt ausstrahlt, müßte verlöschen.
Es gibt einen Weihnachtsmann, sonst könntest du auch den Märchen nicht glauben. Gewiß, Du könntest Deinen Papa bitten, er solle am Heiligen Abend Leute ausschicken, den Weihnachtsmann zu fangen. Und keiner von ihnen bekäme den Weihnachtsmann zu Gesicht - was würde das beweisen? Kein Mensch sieht ihn einfach so. Das beweist gar nichts. Die wichtigsten Dinge bleiben meistens unsichtbar. Die Elfen zum Beispiel, wenn sie auf den Mondwiesen tanzen. Trotzdem gibt es sie.
All die Wunder zu denken - geschweige denn sie zu sehen -, das vermag nicht der Klügste auf der ganzen Welt. Was Du auch siehst, Du siehst nie alles. Du kannst ein Kaleidoskop aufbrechen und nach den schönen Farbfiguren suchen. Du wirst einige bunte Scherben finden, nichts weiter. Warum? Weil es einen Schleier gibt, der die wahre Welt verhüllt, einen Schleier, den nicht einmal die Gewalt auf der Welt zerreißen kann. Nur Glaube und Poesie und Liebe können ihn lüften. Dann werden die Schönheit und Herrlichkeit dahinter auf einmal zu erkennen sein.
Ist denn das auch wahr? kannst Du fragen. Virginia, nichts auf der Welt ist wahrer und nichts beständiger.
Der Weihnachtsmann lebt, und ewig wird er leben. Sogar in zehn mal zehntausend Jahren wird er da sein, um Kinder wie Dich und jedes offene Herz mit Freude zu erfüllen.
Frohe Weihnachten und ein glückliches neues Jahr.
12.12.2005 09:31 •
#2