Zitat von Charla: Deshalb haben die Menschen, die es versuchen meinen höchsten Respekt und sie haben sich ihr Leben nicht so ausgesucht, es wurde ihnen angetan und sie konnten damit noch nicht umgehen, es hat ihre Entwicklung gestört und ist in Hirnregionen abgespeichert, zu denen wir im Erwachsenenleben keinen bewussten Zugang mehr haben, deshalb scheitern meiner Meinung nach auch die meisten Therapien weil sie nicht lehren wie dahinzukommen ist, nur reden hilft da nicht viel, es braucht andere Werkzeuge um dahin zu kommen.
Du kennst Dich damit offenbar gut aus. Es deckt sich damit, was ich als absoluter Laie weiß. Ich weiß auch, dass diese Menschen durchaus Opfer sind. Sie sind beschädigt, weil sie beschädigt wurden.
Bei meinem Ex. wäre wohl nicht mehr viel zu machen. Erstens, er fühlt ja wenig, also auch keinen Leidensdruck. Zweitens, er weiß zwar, dass er beschädigt ist, aber er will sich nicht damit konfrontieren. Es käme womöglich einem Kontrollverlust gleich und damit kann er nicht umgehen. Also muss er weiter mit seinem Programm leben. Er hat nach mir ein halbes Jahr später wieder eine Beziehung gehabt. Möglicherweise sogar geheiratet, denn er trug mal am rechten Ringfinger einen goldenen Ring. Sah nach Ehering aus, aber Genaues weiß ich nicht. Ich weiß , mit wem er zusammen war oder ist, aber mehr auch nicht. Es interessiert mich auch nicht mehr.
Und drittens, er hat keine Erinnerungen an seine Kindheit. Nichts, es ist alles weg. Er erinnert sich an die Zeit als er ungefähr 12 war.Schulanfang, Erstkommunion, einschneidende Erlebnisse, ob positiv oder negativ, es ist nichts mehr da.
Aber ich konnte mir schon einiges zusammenreimen. Vernachlässigt vom Vater, der sich selbst nicht mochte und offenbar nie in der Lage war, eine tiefere Verbindung zu Menschen aufzubauen und somit natürlich auch nicht in der Familie. Der Sohn, der Erstgeborene wurde eher abgewertet. Der Vater war nie stolz auf seinen Sohn und ich glaube, diesen Schmerz hat mein Ex. nie verwunden und aufgelöst. Es störte sein Selbstbild und es störte die Beziehungsmöglichkeiten. Denn der tief verankerte Wunsch nach Nähe und Akzeptanz ließ sich nicht mit seinem Unabhängigkeitsstreben vereinbaren. Zwei Kräfte, die entgegen gesetzt wirken und der Freiheitswille siegt in der Regel, weil die empfundene Freiheit auch als Selbstbestimmtheit empfunden wird. Es ist die persönliche Schutzzone, die sie nicht dauerhaft verlassen können.
Ich könnte mir vorstellen, dass er sogar geprügelt wurde. Es würde ins Bild passen, er hat was geprügeltes an sich. Die Mutter bekam eineinhalb Jahre nach seiner Geburt Zwillinge. Man kann sich gut vorstellen, dass sie überfordert war, zumal Kinder und Haushalt ja Frauensache waren und der Vater nur fürs Geldverdienen da war. Und der Erstgeborene erlebte vermutlich erstmals Einsamkeitsgefühle und Verlassenheit in einem Alter, in dem er meilenweit davon entfernt war, das mit Hilfe des Verstandes verstehen zu können. Das spricht für die Hirnregionen, die Du angesprochen hast.
Und ich? Kam auch nicht unbeschadet durch die Kindheit. Der vergötterte Vater ging arbeiten und blieb mir in der Kindheit oft etwas fern. Ich empfand es so. Und meine Mutter dressierte mich. Tu dies, aber nicht jenes. Früh erfuhr ich , dass Leistung ein gutes Mittel ist, um Liebe und Bestätigung zu ernten. Und noch früher erlernte ich, die Stimmung meiner Mutter auszuloten, der ich ausgesetzt war. Einen Tag schien die Sonne und alles war leicht, den anderen war sie unzufrieden mit sich und ihrem Leben und das bekam ich ab. Höchste Vorsicht war geboten, dass möglichst nichts ihre schlechte Befindlichkeit noch verstärkte.
Ich war kein mutiges Kind, eher zurückgezogen, schüchtern und oft ängstlich. Klarer Fall. Und ich lernte früh, dass meine Befindlichkeiten nicht zählten und keine Beachtung fanden. Mein Kummerkasten war mein Pinguin, ein Stofftier, dem ich alle Kümmernisse anvertraute.
Die Liebe und Zuwendung der Mutter war zu wenig beständig und oft von Leistung abhängig. Irgendwie führte das wohl zur Gefahr einer Selbstaufgabe in Beziehungen und genau das lebte ich dann nach. Ständig bemüht, alles zu tun, zu gefallen ohne Rücksicht auf mich selbst. Leiden war normal, denn Liebe geht nicht ohne Leiden.
Ich habe es so einigermaßen im Griff und kann jetzt sogar konstant in einer Beziehung leben. Aber das setzte eben auch voraus, dass ich mich mit meinen Erfahrungen auseinander setzen musste. Manche Tränen floßen da, aber ich wusste auch, so kann es nicht ewig weiter gehen. Ich muss Ordnung schaffen, die Sache mit meiner Mutter klären, auch wenn sie schon lange tot ist. Ich verstehe sie heute besser.
Sie war selbst traumatisiert. Flüchtlingskind aus dem Sudetenland. Kriegserfahrungen, gewaltsame Vertreibung, Ungewissheit und die grausame Erfahrung, einem höheren Schicksal ausgeliefert zu sein, hinterließen bei ihr tiefe Spuren. Sie stand sich oft selbst im Weg und ihre permanente Unzufriedenheit habe ich auch unbewusst übernommen.
Davon kann ich mich heute gut distanzieren. Ich muss nicht alles behalten, was man mir aufgehalst hat. Es ist auch meine Entscheidung welche Lebensqualität ich habe.
Ich schätze mich als leichteren Fall ein. Ich habe Zugang dazu, Kindheitserfahrungen sind präsent und zugänglich und ich bin kein Opfer von Missbrauch oder Gewalterfahrungen. Wobei es natürlich auch psychische Gewalt gibt, der ich wohl schon etwas ausgesetzt war. Und sofern man Ohrfeigen aufgrund innerer Wut, die aber nicht von mir ausgelöst wurde, als normal ansieht. Damals nicht ungewöhnlich, heute sieht man das anders. Ich fühlte immer, dass ich nur die Zielscheibe ihres eigenen Unvermögens war, weil ich eben da war ... und wehrlos war. Kind eben und abhängig, mit einem immensen Wunsch nach Gemeinsamkeit, nach Vertrautheit, die ich immer da suchte, wo ich sie nicht fand.
Dass ich heute damit leben kann, heißt nicht, dass alles aufgelöst ist. Es bleibt was übrig, aber ich kann damit umgehen. Ich kann mich auf mich verlassen, denn ich musste das ja auch immer tun.