Lieber Udi,
Eine Weihnachtsgeschichte. Naja ein Weihnachtsroman.
Es war einmal eine noch relativ junge Frau, die an einem Silvesterabend, 50m zu Fuß, nach dem obligatorischen Happy New Year Glas Sekt, zu Freunden gehen wollte. Es war ein ungewöhnlich kalter Winter, der plötzlich hereinbrach. Ein paar Tage zuvor hatte es noch geregnet, dann kam Väterchen Frost und schließlich der Schnee. Auf diesem kurzen Weg rutschte sie aus, geriet mit ihrem Fuß in eine Kuhle, versuchte Halt zu finden und macht alles nur noch schlimmer.
Ein paar Menschen, die noch vom Feuerwerk anschauen übrig waren, halfen ihr und riefen einen Krankenwagen. Noch in der gleichen Nacht wurde sie das erste Mal operiert, mußte dann aber nach der OP den Rest der Nacht auf dem Krankenhausflur verbringen, weil nirgendwo ein Bett in einem Zimmer frei war.
Als ihre Eltern am nächsten Morgen zu Besuch kamen, demonstrierten diese großen Unwillen, in welche Situation sich die Tochter denn nun schon wieder gebracht habe. Für dieses Nunschon-wieder gab es keinen Anlaß, die Tochter war eine Einser-Schülerin gewesen, hatte ihr Studium danach in Fast-Regelstudienzeit absolviert und sich schließlich einen festen Job gesucht, sehr, sehr weit weg.
Schnell stellte sich heraus, daß die Verletzungen am Fuß deutlich komplizierter waren als angenommen, so daß eine zweite Operation erfolgen mußte. Jedesmal, wenn die Eltern die Tochter besuchten, waren sie entweder sehr hilflos oder kritisierten die Tochter nur weiter.
Nach der zweiten OP mußte schließlich noch eine dritte folgen, eine Hauttransplantation, da die Wunde so groß war, daß eine natürliches zusammenwachsen nicht passieren würde. Dann würde ihr beigebracht, wie man mit Krücken umzugehen hat und nach über drei sehr, sehr langen Wochen, würde die Tochter aus dem Krankenhaus entlassen.
Sie nahm sich ein Taxi und fuhr zu ihren Eltern, denn niemand holte sie ab, obwohl das Krankenhaus nur etwa 10 min zu Fuß entfernt war.
Die Eltern aber waren mit der Situation recht überfordert und als die Tochter merkte, daß sie sich so leider überhaupt nicht erholen würde können, entschied sie, daß sie irgendwie wieder in ihr Zuhause kommen mußte. Die Eltern konnten ihre Erleichterung über diese Entscheidung kaum verbergen. Wie die Tochter es aber 800km dorthin schaffen sollte, oder was sie tun würde, allein in einer Wohnung, die im dritten Stock ohne Lift gelegen war oder wie sich die weitere Behandlung des Beins ausnehmen sollte, fragten sie sich nicht.
Sie fragten sich auch nicht, wer für die Tochter einkaufen gehen sollte, denn sie mußte ja an Krücken gehen und konnte in den ersten Wochen kaum 20m bewältigen. Oder wie das mit der Arbeit wäre, denn diese war nur durch Pendeln mit dem Zug zu erreichen.
Was sie aber vor allem nicht fragten, war ob die Tochter nicht auch Angst habe, wie all dies zu bewältigen sei. Und glaube mir lieber Udi, die Tochter hatte wirklich große Angst vor all dem. Manchmal war die Angst sogar noch größer als die Schmerzen, die sie ertragen mußte, die höllisch waren, weil ein Teil des eingesetzten Metalls auf einem Nerv lag, so daß sie sich manchmal vor Schmerzen übergeben mußte.
In den Augen der Eltern aber, war die Tochter ja aber schließlich erwachsen, und wer erwachsen ist, der habe gefälligst seine Probleme auch alleine zu lösen.
Die Tochter fand einen guten Freund, dessen Auto groß genug war, so daß sie sieben Stunden mit eingegipsten Bein darin sitzen konnte. Die Tochter lernte, wie man die Treppen bis zur Wohnung mit Krücken bewältigt. Sie fand ein Spital, daß die Weiterbehandlung übernahm, stritt sich mit ihrer Versicherung und klärte die Dinge mit dem Arbeitgeber. Sie lernte, daß sie Freunde hatte, die wochenlang zweimal pro Woche für sie einkaufen gingen. Sie ließ sich zweimal die Woche mit dem Taxi ins Krankenhaus und zur Physio bringen und kam so langsam wieder zu Kräften.
Inzwischen war aus dem Winter ein Frühling geworden und als der Sommer an die Tür klopfte, ging sie wieder arbeiten.
Die Angst aber blieb.
Im Sommer kamen ihre Eltern zu Besuch. Die Mutter hatte in dieser Zeit Geburtstag, also gab die Tochter alles, um ihr einen schönen Geburtstag zu bereiten. Dennoch waren die Tage auch sehr anstrengend, die Mutter war schwierig und dem Vater nicht verständlich, daß die Tochter noch immer nicht so gut und lange laufen konnte. In diesem Sommer mußte die Tochter auch eine Entscheidung treffen, ob sie eine große finazielle Verantwortung tragen wollte, verbunden mit vielen rechtlichen und tatsächlichen Probleme, weil der Vater dies nicht schaffte. Sie hatten den Vater gebeten, Ihr ein wenig Bedenkzeit einzuräumen, der Vater drängte sie entgegen der Abmachung, andernfalls würde er einen anderen Weg einschlagen, womit ein Teil des familiären Erbes, der familiären Tradition verloren gehen würde. Die Tochter mußte sich also, obwohl es dazu wenig Anlass gab, außer das Drängen des Vaters sehr, sehr schnell entscheiden und weil sie immer die Verantwortung übernommen hatte, was sie aber so gar nicht wirklich bewußt wahrnahm, entschied sie sich dafür.
Nun kam also auch noch die Angst dem nicht gerecht werden zu können, sowie eine ganze Reihe von Problemen zusätzlich hinzu.
Der Sommer ging es wurde Herbst und schließlich näherte sich das Jahr dem Ende. Die Tochter war sehr dankbar dafür, hatte sie doch ein unschönes solches gehabt.
Die Weihnachtszeit brach an, es wurde geplant, wie man feiern wollte. Telefonate mit der Mutter waren nie besonders gut einschätzbar für die Tochter. Manchmal waren es nette Gespräche, in anderen beschimpfte die Mutter die Tochter sehr. Manchmal auch nur wegen Kleinigkeiten. Dann wurde geschrieen und wirklich unfeine Begriffe benutzt.
Kurz vor Weihnachten, die Tochter war gerade auf Arbeit, gab es mal wieder ein solches Telefonat. Die Tochter war müde, auch von dem Jahr, mußte eine wichtige Aufgabe für ihren Chef erledigen und entschloß sich, aufzulegen. Solche Telefonate liefen eh immer nach dem gleichen Muster. Irgendwann würde sich die Mutter auch wieder beruhigen, nur um dann an anderer Stelle wieder zu explodieren.
Weihnachten rückte näher, sie machte sich auf die Reise und wollte bevor sie mit einer Freundin in die Stadt der Eltern fuhr, noch Freunde in einer anderen Stadt in der Nähe besuchen. Am Abend vor Heilig Abend rief sie zuhause an, um mitzuteilen, wann sie am nächsten Tag Zuhause sein würde. Es wurde erwartet, daß sie das sehr genau angab.
Ihr Vater war am Telefon, der seufzte und dann sagte, ach so ja Weihnachten. Das wird wohl schwierig in diesem Jahr, Deiner Mutter geht es nicht so besonders gut.
Im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, daß die Mutter kaum ansprechbar war, der Vater wiederum wollte aber keinen Krankenwagen rufen, weil die Mutter dies wohl nicht gewollt hätte. Die Tochter versuchte den Vater zu überzeugen, konnte zumindest erreichen, daß er die Hausärztin kontaktieren würde, so daß die vorbei käme.
Die kam am nächsten Tag, rief dann den Krankenwagen und die Mutter wurde in das Krankenhaus gebracht, in dem die Tochter am Anfang des Jahres so lange war.
Als die Tochter Mittags bei den Eltern ankam, war die Mutter schon weg und als sie am Nachmittag, als die Kirchtürme zum Weihnachtsgottesdienst und Krippenspiel riefen, mit ihrem Vater ihre Mutter besuchen wollte, war diese schon nicht mehr ansprechbar. Drei Tage später ist sie gestorben. die Mutter wurde 56 Jahre alt.
Lieber Udi, es gibt solche Jahre. Es gibt Jahre, in denen kommt es nicht nur schlimm, sondern eben schlimmer. Es gibt Jahre da steht man da und möchte sich ne AK47 kaufen, aber selbst dafür hat man keine Kraft mehr. Da dies ja eine Weihnachtsgeschichte ist, wartest Du jetzt sicher auf das Happy-End. Nun ja life is a B. and then you marry one, heißt es ja so schön oder eben auch Happy-ends sind was für Weicheier.
Natürlich kann es an dieser Stelle der Weihnachtsgeschichte keine Happy-End geben. Wie auch, in dem Bein der Tochter steckten 29 Schrauben verschiedener Größen, zwei Titanplatten und ein Marknagel, über den Tag schwoll der Fuß deutlich an und das gesamte Bein, war mit roten, dicken Narben übersät, dort wo man die Haut hatte transplantieren müssen, klaffte eine tiefe Kerbe. Die rechtlichen Probleme der Verantwortung lösten sich nicht einfach in Luft auf und die Mutter war für immer fort. Wenn dies eine Disney-Geschichte wäre, dann hätten sich zu dem Zeitpunkt der Vater und die Tochter zusammen gefunden, die Probleme gemeinsam bekämpft und gewonnen gegen den Rest der Welt. Der Vater hätte irgendwann eine neue Prinzessin kennengelernt und alle würden als erwachsene Patchwork-Familie in großer Runde friedliche und lustige Weihnachten feiern. Tja, das Leben is nur leider keine Sch.eiß-Disney-Geschichte, was auch gut so ist, den Walt Disney wiederum war ein Na.zi, heißt es zumindest.
Wie ging es also weiter? Der Vater hat tatsächlich eine neue aufgestellt, dies allerdings schon drei, vier Monate nach der Beerdigung. Dabei handelte es sich, das Leben hat einen seltsamen Sinn für Ironie, um die Frau, der die Mutter in dieser Geschichte den Typen mehr als 35 Jahre zuvor ausgespannt hat. Die Frau selbst war schon länger verwitwet, die Mutter dieser Geschichte hat damals die Beerdigung dieses Mannes gemacht. Diese Frau wiederum mag die Tochter leider nicht. Vielleicht weil die Tochter, sie zu sehr an die Mutter erinnert, vielleicht aus anderen Gründen. Der Vater wollte von der Tochter Beifall dafür, daß er sich so schnell jemanden Neues gesucht hat und als er diesen nicht bekommen hat, wurde er gemein und behauptete, daß die Tochter dem Vater das Glück einfach nicht gönnen würde.
Die Tochter aber war zu sehr in ihrer Angst und Trauer gefangen um überhaupt verstehen zu können, was eigentlich so schief ging. Die Tochter tat, was sie gelernt hatte, sie funktionierte, versuchte es jedenfalls, weil sie nun auch große finanzielle Verantwortung hatte, suchte sie sich einen neuen Job. Was natürlich nach dem Jahr zuvor, eine nur bedingt gute Idee war, in neuen Jobs muß man sich auch beweisen, viel Neues lernen und am Anfang auch manchmal ganz schön kämpfen. Wie soll man aber kämpfen, wenn man keine Kraft mehr hat? Tja ne, lieber Udi, wie kann man kämpfen, wenn man selbst doch eigentlich nur noch aufgeben möchte?
Trotz und Wut. Ja ja, ich könnte dir so ein shanti-shanti-Gewäsch abliefern, aber so war das nicht, jedenfalls nicht bei der Tochter. Die Tochter ist übrigens auch nicht die Tochter geblieben, die is dann dort gelandet, wo man nach so einer Geschichte zwangsläufig landet, nämlich auf ner Couch. Die Tochter hat natürlich irgendwann gemerkt, daß sie Einsteins Definition von Wahnsinn erfüllt und das schon sehr, sehr lange und auch wenn sie nicht an Therapie geglaubt hat, Stichwort preußischer Protestantismus, wat solln Gespräche schon helfen, hat die sich gedacht, nützt nix, schadest nix. Da aber hatte das Universum dann doch mal ein Einsehen und hat zwei Leute zusammen geführt, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, die aber -das Leben gibt einem selten, was man will, aber immer was man braucht- wirklich gut miteinander arbeiten können.
Dann war alles gut? Udi, Großer, wir wissen beide, dass das Leben so nicht is. Nö, dann kam, was kommen mußte. Zwei Jahre Tränen, noch mehr Jahre voller harter, harter Arbeit an sich selbst und mühsam erkämpfte Fortschritte. Die Mutter war nicht nur ein bißchen mühsam, sondern mit so großer überwiegender Wahrscheinlichkeit nach, daß man dies als Fakt betrachten darf, eine nicht diagnostizierte Bordberlinerin, der Vater mit passender Komplimentärstörung. Die Tochter immer mitten drin, nie ne eigene Entscheidung getroffen, sondern nur immer welche, von denen sie geglaubt hat, daß würde anderen gefallen und gleichzeitig so viel Trauer und Wut im Bauch, daß nicht gut gehen konnte, was nicht gut gehen kann. Das Metall im Bein, ist inzwischen wieder raus und die rechtlichen Probleme, sind Begleiterscheinung, die ab und zu noch immer auch überfordern, aber zumeist beherrschbar bleiben.
Aber lieber Udi, hier ist dann doch ein kleines Weihnachtswunder, aus dieser Tochter, ist ein echt netter Mensch und ne wirklich spannende Frau geworden. Nee, nicht perfekt. Auch Perfektion is nur was für Leute, die einfach keinen A. inner Hose haben. Nein, lieber Udi, alles ist nicht gut geworden. Mit so ner Geschichte bleiben Baustellen und Narben und es gibt Dinge, die einem vielleicht verwehrt bleiben, vielleicht so gar für immer. Aber aus der Tochter, ist ein E-Claire geworden, eine die Du ab und zu auch ganz gern liest (manchmal auch nicht, hey, ich hab halt ne Meinung ) und ein E-claire, was heute, hier, beschlossen hat, Dir ihre Geschichte, die sie nicht vorher erzählt hat, zu schenken. Nicht im Glauben, daß dadurch das Leben für Dich grad weniger gesch.issen ist. Sondern eben weil Leben manchmal so unpackbar ungerecht, traurig und zutiefst verletzend sein kann.
Wenn Du das E-Claire heute fragst, und auch mein Jahr war ganz schön mies, um ehrlich zu sein, aber wenn du es heute fragst, dann wird sie Dir sagen, ja ich bin glücklich. Nicht ständig, nicht immer und wie jeder hab ich auch noch ne ganze Reihe Dämonen, aber ich bin glücklich. Das Bein, ist immer noch voller Narben, aber sie werden blasser, mit jedem Jahr das vergeht.
Die Narben bleiben, aber irgendwo gelesen in tiefstem Unglück damals: Narben sind etwas sehr schönes, sie zeigen, daß die Wunde verheilt ist. Auf das Deine Wunden auch heilen mögen und dir das Universum ein Wunder schenkt.
Lieber Udi, ich wünschte ich könnte helfen, das kann ich leider nicht. Ich kann Dir aber meine Geschichte schenken.
15.12.2017 21:27 •
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