Liebe Alena, Sanin, Charly,
herzlichen Dank für eure neuerlichen Antworten und eure teilweise kraftvollen Worte.
Ich glaube, ich bin mittlerweile schon so weich-gespült, dass ich nicht mal mehr klar erkenne, wie ungeheuerlich seine Vorstellungen sind. Ungeheuerlich auch deshalb, weil niemand ahnen konnte (oder auch jetzt ahnen
könnte), wie er sich gewandelt hat. Er war immer ein eher schüchterner, zurückhaltender Mann, dabei sehr zuverlässig und geradlinig und mein erster Eindruck vor vielen Jahren und der, weshalb ich mich zu ihm hingezogen fühlte, war: Oooh, der Typ wirkt total vertrauenswürdig!
Und jetzt ist er offenbar nicht nur unehrlich und unaufrichtig, sondern egoistisch, arrogant, verletzend... gut, gut, zwischendurch auch wieder sehr hilfsbereit, zuvorkommend und liebevoll. (Vielleicht so eine Art unausgesprochenes Gentleman's Agreement: Lass mir einfach freie Hand und frag nicht viel nach, was ich hinter deinem Rücken treibe und plane, dann maule ich zu Hause auch nicht rum, sondern bin ganz freundlich und kuschelig zu dir...) Auch seine Entwicklung hin zu einer ganz oberflächlichen Vergnügungssucht als Lebenseinstellung stimmt mich nachdenklich und traurig.
Dieser Wandel seiner Person ist kaum nachvollziehbar (wird aber von ihm begründet mit ich habe viel zu lange viel zu viel geschluckt oder ich muss endlich an mich denken). In seinem Job gab es in den letzten Jahren immer wieder ein Auf und Ab und derzeit ist er nur halbwegs zufrieden (woran sich aber auch nichts ändern wird, wenn er mich los ist). Es gab ein paar heftige Schicksalsschläge in unserer Familie, die uns natürlich beiden zu schaffen machten, aber nicht unmittelbar mit mir oder mit unserer Beziehung zu tun hatten. Klar, die Tendenz bei ihm war (teilweise), vor diesen Schicksalsschlägen zu flüchten statt sich damit auseinander zu setzen (was auch eine neue und für mich überraschende Entwicklung war, denn früher hatte er die Einstellung, Krisen und Probleme anzunehmen und das Beste daraus zu machen und war darin auch ein sehr verlässlicher Partner).
Deshalb vermutete ich, er stecke in einer handfesten Midlife Crisis. Und bei Krisen muss man doch zusammenhalten. Wenn er schlecht drauf ist, dann muss ich ihm doch beistehen, oder? Mit ihm gemeinsam diese Krise durchstehen und dann wieder die Partnerschaft pflegen.
Aber, nee, nee, eine Krise hat er nicht, seiner Meinung nach. Ach, dann eben doch schockierender, radikaler Wandel seiner Persönlichkeit bzw. eines großen Teils davon (zum Glück gibt's ja täglich auch Facetten, in denen ich ihn wieder erkenne). Vielleicht hat er das ja auch schon lange ausgebrütet und ich hab's tatsächlich nicht gemerkt. (Denn ein Mensch einsamer Überlegungen und Entscheidungen war er auch schon von Jugend an.) Und manches Gemecker von seiner Seite zwischen Tür und Angel habe ich nicht richtig ernst genommen, wie mir jetzt bewusst wird (aber ich meckere ja selbst auch mal übellaunig vor mich hin, ohne damit die Beziehung in Frage stellen zu wollen). Natürlich habe ich auch Schwächen, an deren Überwindung ich mehr hätte arbeiten können. Sicher, auch das kann zu seinem Rückzug bzw. Wandel beigetragen haben. Aber sein jetziger Anspruch, mich in allem und jedem kritisieren und korrigieren zu dürfen (während er sich für Mr Perfect hält), ist übertrieben und unangemessen.
Meine Interessen verwirkliche ich durchaus - das habe ich eigentlich fast immer getan während der ganzen Jahre. Diese Interessen führen oft zu interessanten, anregenden Gesprächen und Begegnungen mit anderen Menschen - aber ganz sicher nicht zu Zärtlichkeiten und mehr.
Ganz abgesehen von kreativen Interessen (liegen derzeit etwas brach...), die zwar bereichernd sind, aber überwiegend
allein ausgeführt werden (ohne Kontakte zu anderen). Klar, kann man in vielen kreativen Bereichen auch Kurse besuchen, aber die eigentliche Arbeit, das eigentliche Sichvertiefen geschieht dann doch allein zu Hause.
Ehrlich, nach neuen Beziehungen zu anderen Männern ist mir momentan leider nicht zumute. Aufbretzeln, ausgehen und flirten? Ach, nöö. Ehrliche, authentische Unterhaltungen, Diskussionen - gerne. Beziehungen zu knüpfen, mit dem Zweck, meinen Mann eifersüchtig oder aufmerksam zu machen, käme mir vor wie ein Spiel mit anderen Menschen (und deren Gefühle). Ihm wiederum was vorzugaukeln, wenn ich in Wirklichkeit nur mit einer Freundin ins Kino gehe, würde ja heißen, mich ebenfalls in Unehrlichkeit und Lüge zu begeben.
Mir geht heute die ganze Zeit eine Zeile von Reinhard Mey nicht aus dem Kopf: Ich bin ein ruhiges, gutmütiges Schaf...
Der Liedtext steht zwar in einem ganz anderen Zusammenhang, aber diese Zeile passt.
Wahrscheinlich muss ich in der Gegenwart meines Mannes nicht kotzen, Alena, weil ich ja präsent habe, dass ich ihn viele Jahre ganz anders erlebt habe und immer auf der Suche bin nach Anhaltspunkten dieser verlorenen Persönlichkeit. Hätte er sich schon am Anfang unserer Beziehung so gebärdet, wäre ich sicher nicht nur kotzend sondern auch schreiend davongelaufen.
Aber letztendlich bleibt mir nur der Weg durch die Trauer und die Verzweiflung und das Annehmen dessen, was ist, nämlich sein Wandel, den ich nicht wahrhaben möchte, der aber tatsächlich vorhanden ist. Und zu seiner neuen Lebenseinstellung bin ich zu wenig kompatibel, das stimmt schon (ganz nüchtern betrachtet). Dafür kann er tatsächlich passendere Frauen finden (und während ich das schreibe, habe ich wieder so ein doofes Arbeitgeber-Angestellte/Bewerberin-Szenario vor Augen).
Aber wie Mimi (von sich) schrieb, es wird ein harter, steiniger Weg werden, mich aus dieser Partnerschaft zu verabschieden und mich von ihm zu lösen. Diese Ehe, unsere Beziehung, dann wirklich als gescheitert anzusehen. (Diesen Gedanken finde ich so immens schrecklich!)
Der Austausch mit euch ist mir eine große Hilfe! Danke dafür! Danke für die Zeit, die ihr euch nehmt, zum Lesen, Mitfühlen, Mitdenken...
(Und da kommt leider schon der erste Vorbehalt gegenüber der möblierten Wohnung: Es gibt keinen Internetanschluss. Muss mich mal kundig machen, was zu tun wäre, um einen einzurichten und wie lange das dauern würde. In einer Viertelstunde Fahr-Entfernung gibt es zwar ein Internetcafé, aber das wäre mal recht zum Mails abrufen, aber weniger für persönliche Gespräche.)
Viele liebe Grüße
Chiara
PS: Danke dir, Charly, für den kleinen Hoffnungsschimmer, den du mir mitgibst!