Ein kranker Mann

E
Mein Problem ist schwer zu beschreiben. Oder ganz einfach, wie man's nimmt.  Der Kürze halber die einfache und harte Fassung :

Ich habe vor über zwei Jahren diesen Mann kennengelernt und ihn bald sehr liebgewonnen. Er mich auch. Es war zart und blumig ... aber ich war und bin bis heute in einer anderen Beziehung und es durfte nur bis zu einer bestimmten Grenze gehen. Ich habe mir eine tiefe und zärtliche Freundschaft gewünscht, aber er wollte mehr. Ich auch, wenn ich ehrlich bin, aber ich war bereit zu verzichten.
Wie auch immer... er hatte bis dahin noch keine wirkliche Freundin gehabt und sein einziger S. war wohl etwas desaströs verlaufen. Er litt sehr unter seiner Jungfräulichkeit, was ich nachvollziehen konnte - er litt so sehr darunter, dass er von Selbstmord sprach. Und ich war seine letzte Hoffnung.
Da war ich nun, mit dem festen Willen zu widerstehen und mit der subtilen, aber doch deutlichen Drohung, an seinem Tod schuldig zu werden.
Nein, ich habe nicht mit ihm geschlafen. Ich wollte ihm in jeder Beziehung helfen, wollte ihm eine liebe und zärtliche Freundin sein und war das auch. Aber da war immer dieser Druck. Oft haben wir uns gestritten, wenn er sich wieder zurückgesetzt fühlte, oft war er ungerecht zu mir und unterstellte mir, dass ich ihn ablehne. Ich wollte doch alles tun, um ihm zu helfen, ich hab ihm bei praktischen Problemen geholfen, hab ihm Adressen rausgesucht, damit er sich professionelle Hilfe holt, hab ihn fast jeden Tag zumindest angerufen. Aber es war eine Quälerei.
Du bist alles was ich habe, ich habe kein Leben ohne dich, keine Freunde, niemanden
Mit dieser Verantwortung musste ich leben, habe mich darauf eingestellt  und mein eigenes Leben vernachlässigt. Ich habe mir auch kaum noch eigene Freude gegönnt, jede Freude die ich ohne ihn erlebte war ja ein Diebstahl. Mein Leben ist dadurch ziemlich verarmt.

In den letzten Monaten hat sich herausgestellt, dass der arme arme Mann mich nach Strich und Faden betrogen hat. Schon vorletzten Sommer fing er an, mit irgendwelchen(!) Frauen *beep*, seit letztem Sommer hat er eine ernstere Beziehung zu einer verheirateten Frau angefangen. Das ist alles nichts, was ich ihm nicht gegönnt hätte. Der Betrug lag darin, dass er mich weiterhin ausgesaugt hat wie ein Vampir, mich weiter unter Druck setzte, mir ein schlechtes Gewissen machte.

Nun ist das alles aufgeflogen, es hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen und mein Vertrauen nicht nur in ihn erschüttert. Es gibt ihn noch. Er will mein Freund sein, der, den ich mir gewünscht habe. Er bettelt um mein Vertrauen. Er will mir jetzt, spät, etwas zurückgeben - sagt er. Oder will er nur seine Macht über mich zurückhaben? Mein Verstand weiß Bescheid, mein Gefühl ist zerrissen. Es widerstrebt mir, ihn einfach zu verurteilen, er ist krank krank krank. Aber ich muss jetzt mich retten.

Ich lebe schon seit Herbst mit dieser Zerrissenheit und ich warte, dass etwas passiert, dass es aufhört, so wehzutun . Es tut weiterhin weh. Ich führe fiktive Dialoge und komme nicht aus diesem Kreis heraus. Ich will verstehen. Oder vergessen. Ich will einfach nur schlafen können.

Danke für's lesen

Schwester

04.01.2002 02:09 • #1


E
Liebe Schwester,
was ich dir schreiben werde, ist vielleicht nicht das, was du gern hören willst. Aber ich hoffe, dass es dir vielleicht hilft, einige Dinge zu überdenken.
So wie ich aus deinen Schilderungen entnommen habe, ging es dir doch eigentlich ganz gut. Du hattest deine Beziehung (in der dir aber scheinbar doch irgend etwas gefehlt haben muss), du hattest deine s.uelle Befriedigung (nehme ich zumindest an) und du hattest diesen Freund, der doch offensichtlich durch sein Bemühen um dich auch dein Selbstbewußtsein sehr gestreichelt hat. Aber wie war es denn umgekehrt? Kannst du dir nicht vorstellen, dass dein Freund durch deine Abweisung - ich kann es nur als solche bezeichnen - sehr gelitten , an sich gezweifelt hat? Sag mir bitte, was das für eine Freundschaft sein soll. Du hast doch gemerkt, dass es ihm damit nicht gut ging. Und wenn du ihm wirklich eine Freundin sein wolltest, wie kannst du dann so verletzt sein, weil er versucht hat, seinen Schmerz, dessen Ursache in deiner körperlichen Zurückweisung liegt, zu bekämpfen. Ist es nicht natürlich oder sogar ein Gewinn für ihn, dass er in der Lage war, mit anderen Frauen zu schlafen? Das heißt doch nicht, dass er dich nicht trotzdem wollte, aber in der Zeit, in der du eigentlich durch deine Beziehung ganz gut versorgt warst, musste er mit sich allein zurecht kommen. Liebe Schwester, weißt du wirklich nicht, wie sehr er sich gequält haben muss? Du sagst, du warst ihm eine liebe zärtliche Freundin - wie soll ein Mann das denn aushalten??? Ich halte ihn (nach deinen Schilderungen) keineswegs für krank. Nimm es mir nicht übel, aber ich halte deine Motive für sehr egoistisch - du bist in deiner Eitelkeit verletzt, weil er sich auch anderen Frauen zugewendet hat. Vielleicht wäre das ja gar nicht passiert, wenn er bei dir eine Chance gehabt hätte. Und dass er es dir nicht ehrlich gesagt hat - erstens hatte er wohl Angst, dich dann ganz zu verlieren und zweitens, welche Rolle spielt das in einer Freundschaft. Liebe Schwester, ich denke, du solltest vielleicht mal über deine Beziehung nachdenken, von der du hier ja gar nichts erzählt hast. Aber es muss einen Grund geben, warum du diesen Freund in dieser Art und Weise so gebraucht und nach meinem Empfinden - benutzt hast. Kann es sein, dass dein Problem ganz wo anders liegt? Fehlt dir vielleicht in deiner Beziehung Zuwendung, Verständnis oder brauchst du generell die Anerkennung von jedermann? Dann wäre es eher so, dass dafür die Ursachen gesucht werden müssten - unter Umständen vielleicht auch mit professioneller Hilfe.
Ich hoffe, dass ich dich mit meinen Worten jetzt nicht verletzt habe- das ist keineswegs meine Absicht. Aber ich spreche sozusagen aus eigener Erfahrung. Denn auch ich kämpfe (seit Jahren schon) mit meinem Egoismus, meiner verletzten Eitelkeit - in mir ist immer noch viel Wut und vielleicht sogar Hass - und das sogar dem Vater meiner Tochter gegenüber. Ich weiß, dass dies am Schlimmsten mein Kind trifft und trotzdem war ich bisher noch nicht in der Lage, bestimmte Dinge aus einer anderen Sicht zu sehen und zu verzeihen. Aber ich habe ein Ziel und ich bin auf dem Weg dahin. Wenn du willst, kann ich dir gern mal mehr darüber erzählen, aber das würde jetzt den Rahmen sprengen.
Was ich dir gern mitgeben würde - versuche, zu verstehen und sprich mit jemanden darüber, vielleicht sogar mit uns, auch wenn wir dir nicht unbedingt nach dem Munde reden - das würde dir sowieso nicht helfen. Aber wenn du traurig oder wütend bist, dann kannst du es hier gut los werden und einige Anregungen vielleicht auch gut nutzen.
Liebe Schwester, ich wünsche dir, dass du die Kraft findest, diese Situation noch einmal ganz neu zu überdenken (und dabei solltest du nicht nur dich und deinen Freund, sondern auch deinen Partner aus deiner bestehenden Beziehung einbeziehen). Vielleicht kommst du dann ein Stück weiter.
Liebe Grüße
Tina

04.01.2002 11:11 • #2


E
Nein, deine Antwort hat mich nicht gekränkt. Das was du geschrieben hast, dass auch er sich gequält hat, das habe ich doch immer gewusst und darunter gelitten. Ich hätte ihn fliegen lassen wie einen Vogel, aber er wollte das nicht. Er hing ja an mir wie ein hungriges Kind an der Mutter. Nein, es kränkt mich nicht so sehr, dass er sich mit anderen Frauen getröstet hat. Das schlimme war, dass er mir eine Figur vorgespielt hat, die es nicht gab. Er war ja angeblich zu schüchtern, um überhaupt mit Frauen zu reden. Er war zu ewiger Jungfernschaft verdammt, weil er nicht auf Menschen zugehen konnte. Er hatte doch kein Leben ohne mich, und jeden Moment, wo ich mein Leben lebte, habe ich mich geschämt.

Und ich war schuld. Ich war schuld, und es gab keinen Tag, an dem ich vergessen durfte. Was ich ihm vorwerfe ist nicht, dass er sich seine Freiheit genommen hat, sondern dass er mir meine genommen hat. Ich hab mich jeden Tag damit gequält, wie ich ihm denn helfen könnte, und wenn ich mich nicht gequält habe, hat er das für mich unternommen. Es stand ja immer - ausgesprochen oder nicht - die Drohung mit Selbstmord im Raum. Und das ist mein wunder Punkt, ich habe schon einen Menschen durch Selbtsmord verloren. Das wusste er auch.

Natürlich haben wir darüber geredet, was passieren würde, wenn er sich in jemand anderen verliebt und ich wollte ihm auch dann eine Freundin sein, ich habe doch gehofft, dass sich unser Verhältnis dann von etwas quälendem zu etwas schönem wandeln würde. Aber er hat die Qual weitergetrieben. Als ich drei Wochen mit meinem Freund in Urlaub war, hat er einen Großteil der Zeit mit seiner Freundin verbracht. Am Telefon erzählte er mir, dass er die ganze Zeit gelitten hat, sich nach mir gesehnt hat und furchtbar einsam war. Das war nicht einfach schmeichelhaft, ich habe geweint und geweint und geweint um ihn.

Dass ich ihn als kranken Mann bezeichne ist auch nicht einfach eine Abwertung. Er ist psychisch krank, ist in stationärer Behandlung deswegen gewesen und erst kürzlich entlassen worden. Ich habe mir zuviel vorgenommen,als ich dachte, ich könnte ihm helfen. Seine Krankheit war ein Teil dessen, was mich an ihn gefesselt hat. Man kann doch einen Leidenden nicht allein lassen. Aber er hat es auch instrumentalisiert.

Dass ich selbst möglicherweise professionelle Hilfe brauche - da hast du zweifellos recht. Ist auch schon in die Wege geleitet. Es ist so: Ich verliere meine eigene Entscheidungsfähigkeit, wenn jemand traurig ist. Un dich will nicht mehr so hilflos sein.

Liebe Grüße
Schwester

04.01.2002 11:46 • #3




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