NM,
ich bin hin- und hergerissen zwischen meinen Gefühlen zu dir und meinen Verstand. Wir leben nun seit fast sechs Monaten getrennt. Einerseits eine gefühlte Ewigkeit, anderseits ging die Zeit schnell vorbei.
Meine Hoffnung, dass du nach zwei Monaten wieder zurückkommen wirst, hat sich nicht erfüllt. Unsere eigene kleine Familie, die wir gründeten, gibt es nicht mehr. All unsere Träume haben keine Bedeutung mehr. Unsere Weltreise in unserer Rente, die wir mit unserem Camper machen wollten. Alles liegt in Scherben und ich versuche, mir eine eigene Familie mit unserem Kind wieder aufzubauen. Ich kämpfe jeden Tag, nichts zu bewerten und die Zeit für mich arbeiten zu lassen. Insbesondere letzteres ist für mich ein großer Kraftakt. Ich bin müde und erschöpft und merke von Tag zu Tag mehr, dass ich dringend eine Auszeit für mich benötige, denn meine Kraft, ein neues Leben einzurichten, wird stetig weniger.
Am Wochenende habe ich unsere alten Freunde besucht. Sie sagten, dass sie bei vier Personen, drei davon zutrauen würden, eine Affäre zu haben, aber du wärst der eine von vier gewesen, dem sie das nie und nimmer zugetraut hätten. Auch andere sagten ähnliche Dinge zu mir. Niemand hätte erwartet, dass du dazu fähig bist, selbst du hattest mir kürzlich gesagt, dass du dir das selbst nie hättest vorstellen können zu soetwas fähig zu sein. Auch ich dachte immer, dass du nicht so wärst. Denn du hast mich immer auf Händen getragen und mir das Gefühl gegeben, ich sei der wichtigste Mensch in deinem Leben. Warum habe ich mich so in Sicherheit gewogen? Wann habe ich aufgehört, dich zu sehen, so wie du dich entwickelt hast und wie du bist. Ich versuche jetzt dich als den Menschen zu sehen, der du nun bist. Ich erhoffe mir damit, dich wieder als Mensch wahrzunehmen und genug negative Eigenschaften zu finden, damit ich besser loslassen kann.
Du hast mein Mitgefühl, denn ich spüre, dass du nach wie vor in deinem eigenen Theaterstück gefangen bist. Du bist stehen geblieben und nutzt die Trennung nicht dazu, dich weiterzuentwickeln. Du ergreifst wie du selbst sagst die Flucht nach vorne, um dich nicht mit deinen Gefühlen und eigenen Themen auseinandersetzen zu müssen. Das bedauere ich sehr, denn ich weiß, wie sehr du auf der Suche nach deinem eigenen Glück bist. Ich befürchte aber, du wirst es nicht finden, wenn du nicht anfängst, an dir zu arbeiten und dein Glück in deine eigene Verantwortung zu geben.
Du rufst wieder täglich bei mir an, um mit mir zu reden. Du fragst die letzten Tage jedesmal nach, wann wir beide uns wiederzusehen ohne Kind, wann wir wieder mal etwas zu zweit unternehmen. Eigentlich sollte ich die Telefonate unterbinden, um mich selbst zu schützen, aber ich kann es nicht. Ich will einfach wissen, wie es dir geht, möchte deine Stimme hören und mit dir lachen, unkomplizierten Spaß genießen, ohne Alltag zu haben. Aber es hält mich auch ab, zu heilen. Heilen von all den Verletzungen, die du mir zugefügt hast. Während meiner betrieblichen Weihnachtsfeier wurde ich von unterschiedlichen Chefs gefragt, was genau passiert sei und wie es mir geht. Als wir später noch in einer Kneipe waren, hatte mein ehemaliger Chef sich über deine Aussage mir gegenüber lustig gemacht, weil sie einfach so unfassbar absurd von dir war. Dabei sind noch ein paar andere eingestiegen und sie überlegten sich unterschiedliche Szenarien, wie sie im Anschluss an die Feier bei dir vorbeifahren könnten und welche Sprüche sie dir analog zu deiner Aussage gegenüber mir dir reindrücken könnten. Auch wenn ich über deren Einfallsreichtum lachen musste, verletzte es mich gleichermaßen sehr, denn deine Aussage war das Demütigenste, was du mir je gesagt hast.
Im Moment brenne ich unsere Hochzeitskerze weiter ab. Ich kann sie nicht wegwerfen, möchte sie aber keinesfalls aufbewahren. Wenn ich bedenke, dass diese Kerze nun regelmäßig seit September brennt und wie wenig bislang abgebrannt ist, wird sie mir noch eine Weile Gesellschaft leisten. Vielleicht brauche ich diese Zeit auch noch, um abschließen zu können.
Du hattest mir kürzlich angeboten, unser Kind an Silvester zu nehmen, damit ich ausgehen kann. Gestern habe ich für unseren Sohn und mich einen Strandurlaub über Silvester gebucht. Deine Eltern kommen zu diesem Zeitraum auch dorthin. Als wir am Telefon darüber sprachen, warst du enttäuscht, dass du mit unserem Sohn nicht Silvester verbringen kannst. Warum denn eigentlich? Du wolltest doch jung und frei sein. Zudem würde ich niemals sagen, dass du nicht dazukommen darfst, wenn es dir wirklich wichtig ist, Silvester mit unserem Kind zu verbringen. Ich vermute, du wirst das nicht machen. Das kann ich aber dann nicht verstehen, denn dann wäre dein Interesse an Silvester mit deinem Sohn zu verbringen doch irgendwie nicht ganz so ernst wie du vorgibst. Mir würde der Abstand aber gewiss guttun. Ich freue mich auf lange Strandspaziergänge bei starkem Wind und Regen.
Vor Kurzem erzähltest du mir, dass du unseren Sohn und mich vermisst, ebenfalls unsere Vertrautheit. Auch einige unserer Aktivitäten fehlen dir. Tja, auch wenn ich mir manchmal wünschte, es wäre anders, so denke ich, dass dir die Gewohnheit und dein Alltag fehlen. Eigentlich sollte ich diesen Aussagen keinerlei Bedeutung beimessen, dennoch drehen sie ihre Kreise in meinem Kopf. Und wieder höre ich in meinem Kopf die Stimme deiner Mutter, die mich warnt Kümmere dich nicht darum, ob es ihm schlecht oder gut geht, du schadest dir nur selbst. Das muss er für sich selbst klären, wird er aber wahrscheinlich nicht, denn er wird weiterhin vor sich selber fliehen.
Warum hälst du nur so an deinem alten Leben fest? Warum gibst du deinem unkomplizierten, jüngeren Leben keine ernsthafte Chance? Damit wäre es auch für mich einfacherer, dich früher abzuhaken, wenngleich mir bewusst ist, dass das mein eigenes Arbeitsfeld ist. Warum verharrst du und entwickelst dich nicht weiter? Warum suhlst du dich so in deiner Opferrolle und bemitleidest dich selbst, dass dich überhaupt niemand versteht, dass fast alle ohnehin nur pro uns sind? Du magst mit niemanden reden und anonyme Hilfe lehnst du auch vehement ab. Auch weigerst du dich, dich mit dir selbst auseinanderzusetzen. Das ist aber dein Problem, dass nur du lösen kannst.
Ich kann es kaum erwarten, in das Jahr 2020 zu starten. Ich hoffe, dass Jahr wird deutlich besser als dieses. Ich hoffe, dich endlich in Frieden loslassen zu können und mein Leben gemeinsam mit unserem Sohn neu zu beginnen. Ich denke, ich habe bereits angefangen, mich neu zu orientieren. Zwar in ganz ganz kleinen Minischritten, aber dafür nach vorne.
Ich wünsche dir, dass du 2020 den Zugang zu dir selbst findest und etwas daraus machst und dich endlich nach vorne bewegst anstatt zu verharren.
10.12.2019 23:27 •
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