Zitat von BernhardQXY: Ich habe bislang nie die Erfahrung gemacht, dass die Boulevard presse auch nur ansatzweise das Bestreben zeigt, Nachrichten nach einem gewissen journalistischen Ethos zu erstellen. Bei ihnen geht um nichts außer Schlagzeilen und Verkaufszahlen.
Ichsage es immer wieder gern, auch eine kaputte Uhr, hat zwei mal am Tag Recht. Zunächst fängt es damit an, daß der Begriff Boulevardpresse ein sehr dehnbarer ist. Umgedreht lebt manches seriöse Blatt von einem Ruf, der vor 50 oder 60 Jahren (zB Augstein, Dönhof) entstand und es unklar ist, inwieweit der dadurch repräsentierte romantische Ethos denn tatsächlich noch so gelebt wird.
Wie Nachrichten entstehen, wie diese vertrieben werden, wie wir diese konsumieren hat sich in den letzten 40 Jahren massiv verändert und es ist nicht unbedingt Murdochs alleinige Schuld, da er dies zwar ausbeutet, aber bedingt wird es nun mal von uns allen, die eben Nachrichten konsumieren.
Zitat von Desperate1980: Ein 85jähriger Mann, der scheinbar öfters richtig als daneben lag, hat einfach nichts mehr zu verlieren auf seine alten Tage. Außer seinen Ruf.
Und mir erscheint es als ob er uns (s)eine letzte große Enthüllung hinterlassen möchte.
Ich bin da bei @Brightness mir ist die Motivation eines Journalisten zunächst komplett Wurscht, weil Motivation allein nichts am Wahrheitsgehalt einer Nachricht ändert.
Das erste Problem liegt beim Wahrheitsgehalt selbst und daran anschließend in der Einordnung in den Kontext.
Wenn @tina1955 darüber schreibt, daß sie nichts mehr versteht, dann kann ich das sehr gut nachvollziehen, weil es neben Wahrheitsgehalt und Einordnung in den Kontext, den nächsten Problemkreis gut beschreibt und das ist, daß eben genau jene Einordnung in den Kontext keine statistische sondern eine dynamische ist.
Damit ergeben sich drei Probleme: Wahrheit, Kontext und Dynamik.
Wahrheit.
Spannende finde ich, daß ein Prinzip, was so simple ist, nämlich entweder etwas ist wahr oder eben nicht, in der Praxis als unfassbar vielschichtig herausstellt. Die meisten Dinge, die veröffentlicht werden, lassen sich nämlich nicht in diese Kategorien einordnen, sondern sie sind je nach Berichterstattung mehr oder weniger gesicherte Wahrscheinlichkeiten, also Vermutungen. In der Türkei hat es ein Erdbeben gegeben, ist eine mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit und lässt sich als (!) wahr darstellen. Allein die Frage, ob dieses natürlich (tektonische Plattenverschiebung etc) oder Folge eines menschlichen Handels (Ölbohrungen, Anschlag aka Explosion an der richtigen Stelle(n) etc) ist, lässt sich schon nicht mehr genau sagen.
Wir hören Erdbeben, wir denken (folgern) Naturkatastrophe.
Der erste Schritt ist also sich drüber klar zu werden, daß unser Bedürfnis nach Wahrheit und zwar einer statischen deutlich größer ist, als die paar Wahrheiten die es tatsächlich gibt.
Kontext:
XYZ ist in der Türkei vorgestern gestorben, hier ist sein Leichnam (Fakt). In der Türkei sind unzählige Menschen gestorben (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wahr). Woran? an einem Erdbeben (seismographisch darstellbar, daher wahrscheinlich wahr).
Tausende Menschen sind an einer Naturkatastrophe gestorben (vermutlich wahr, vielleicht aber auch nicht.).
Im Moment ordnen wir den Tod dieser Menschen dem Kontext Erdbeben zu und schlußfolgern daraus eine Naturkatastrophe. Fakt, Kontext, Schlussfolgerung.
Im Nachgang stellt sich heraus, daß kurz bevor das Haus von XYZ einstürzte, dieser von seiner Frau erschlagen wurde. Fakt, neuer Kontext, andere Berichterstattung
Kontext verändert Berichterstattung. Jede Berichterstattung setzt aber eben auch Fakten immer in einen Kontext.
Dynamik: Ob der ursprüngliche Schluss Menschen starben an einer Naturkatastrophe weiterhin Bestand haben wird, ist jetzt davon abhängig, welche anderen Erkenntnisse wir mit der Zeit erlangen. Würde es wirklich einige unter uns wundern, wenn sich herausstellt, daß dieses Erdbeben nicht zufällig, natürlich sondern eventuell unter Zutun von Menschen entstanden wäre? Würde es wirklich alle wundern, wenn nicht alle Menschen, die starben, in Folge des Erdbeben ihren Tod fanden?
Unser Bedürfnis uns über zB die Presse über das Zeitgeschehen zu informieren, darf nicht mit unserem Bedürfnis nach einer statischen Wahrheit verwechselt werden.
Wenn man sich einmal mit dem Problem Wahrheit, Kontext, Dynamik vertraut gemacht hat, kommt man dann zum nächsten Punkt: Bewertung. Und an der Stelle tut sich allerlei auf. Eine Bildzeitung lebt ua davon einfache Bewertungen in Gut oder Schlecht vorzunehmen, andere Presseerzeugnisse mögen das differenzierter darstellen.
Spannend wird es vor allem dann, wenn sich Bewertungen in der Rückschau verändern. Es hat irgendwann in den gesamten Coronachaos einen Moment gegeben, in dem die Vermutung Schulschließungen würden das Infektionsgeschehen nachhaltig positiv beeinflussen und müssten daher sein, so nicht mehr haltbar war.
Ab wann wurde die Vermutung entkräftet, ab wann hätten die EntscheiderInnen Kenntnis haben können (müssen), ab wann hätte sich die Entscheidung Schulen zu schließen bzw Schulen geschlossen zu lassen, nicht mehr auf diese Vermutung stützen dürfen?
Das bringt uns zum letzten Problemkreis: Empfängerhorizont.
Auf hier spielen eine ganze Reihe von unterschiedlichen Dingen eine Rolle, zB auch der von @Fidschicat benannte confirmation bias (
https://de.wikipedia.org/wiki/Bestätigungsfehler ) oder das nicht unberechtigte Interesse Massenpanik oder-psychosen zu verhindern (Werther-effekt). Nichtsdestotrotz, ist es essentiell, daß sich jeder, der bestimmte Medien kritisiert, auch darüber bewusst wird, daß wir als Konsumenten auch einen Teil zu dem, was wir kritisieren beitragen. Ein Bildzeitungsleser fühlt sich im Nachgang belogen, ein YPS-Heft Leser mag seinen Stand der aktuellen Wissenschaft erneuern und ein NZZ Leser überdenkt vielleicht, wie unfassbar schlecht die Entscheidenden auf das Treffen komplexer Entscheidungen vorbereitet waren.
Ich erinnere meine Beiträge zur Covid-Impfung gut (absolutes pro), ich hielt eine stattliche verordnete Impfpflicht für ausgeschlossen und ich habe mit keiner Faser meines Intellekts auch nur im Ansatz für möglich gehalten, welche spaltende Wirkung unterschiedliche Ansätze bzw Überzeugungen haben könnten. Ich sehe alle drei Dinge inzwischen differenzierter oder anders.
Hat das mein Verhältnis zur Presse verändert? Jein oder Jain Es hat mich einfach noch genauer werden lassen, in der Frage, was ist eine Wahrheit und was halte ich für eine Wahrheit.