Der Gedankenspaziergang

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Ein herzliches Willkommen zum fünfzehnten Gedanken-spaziergang! Heute mal wieder ein kleiner Seitenweg, den wir beschreiten... also ein Thema, das nicht direkt an den vorherigen Gedankenspaziergang anknüpft... wobei - mal sehen.

Bei diesem Thema handelt es sich um die Fähigkeit,seine Sichtweise zu verändern. Genauer: Eine andere Sichtweise einzunehmen... die Sichtweise des anderen einzunehmen... am besten:

Sich in die Lage des anderen versetzen können.


Ich will Ihnen deshalb auch mehr darüber erzählen, weil es zu den wertvollsten Erkenntnissen gehört, die mir zuteil wurden, und für die ich unendlich dankbar bin. Es ging natürlich nicht
von Heute auf Morgen... ich kann auch den Zeitraum des Umbruchs nicht mehr bestimmen... aber eines weiß ich genau: Seit ich diese wertvolle Fähigkeit erlangt habe (und beständig pflege und erweitere), hat sich sehr vieles verändert. Aber am besten erkläre ich das an einem Beispiel (bewusst sehr allgemein gehalten):



Nehmen wir einmal an, Sie geraten in einer beliebigen Situation mit einer anderen Person in Konflikt. Sie diskutieren und argumentieren... und nach kurzer Zeit wogen die Wellen immer höher und es mutiert zu einem heftigen Schlagabtausch... zu einer Art Streit. Wir alle kennen solche Situationen - egal ob es ein Zwist im Büro ist oder ein Zank mit dem(der) Partner(in).

Nun zu meiner Erfahrung: Seit ich gelernt habe, mich in die Lage des anderen zu versetzen gibt es für mich das, was man landläufig unter Streit bzw. Ärger versteht (nahezu), nicht mehr. Das klingt in Ihren Ohren vielleicht etwas übertrieben. Aber tatsächlich - es ist so. Okay, ich gebe zu, ein weiteres Wort spielt noch eine sehr gewichtige Rolle: Bewusstsein. Oder besser Aufmerksamkeit oder Achtsamkeit.

Es geht darum achtsam den eigenen Gedanken gegenüber zu sein. Damit man sich rechtzeitig ertappt... dabei ertappt, wie man sich klammheimlich - still und leise - doch wieder seine Scheuklappen aufzieht und nicht mehr die Lage des anderen sieht. Denn der andere ist ja gar nicht so anders - er ist auch nur ein Mensch. Mit der gesamten Palette an Gefühlen - von Liebe und Freude über Gleichmut bis zu Wut und Hass. Und wenn ich ganz aufrichtig zum mir selbst bin - ehrlich aufrichtig, dann muss ich mir eingestehen, dass ich vielleicht in seiner Lage genauso reagieren würde... na, dass es wenigstens Grundsätzlich nachvollziehbar ist (und mit genügend Phantasie ist es das), dass jemand in seiner Situation so ist wie er eben ist.

Daraus folgt ja nicht zwingend, dass ich seine Reaktionen, Worte oder Handlungen befürworte. Sie sind mir auch nicht egal. Aber sie treffen mich nicht mehr mit voller Wucht... nicht mehr persönlich.

Anfangs noch mit halber, später mit geringster Kraft und irgendwann überhaupt nicht mehr. Irgendwann wird man dann wie durchsichtig... durchlässig. Die oberflächlichen Worte, die etwa vom Gegenüber in Wut ausgesprochen wurden treffen auf keinen Widerstand mehr - sie fliegen quasi durch uns hindurch. Ohne Berührung. Ja, genau - sie berühren uns nicht mehr.

Weil wir wissen, wie's dem anderen gerade ergeht. Dass er eben wütend und aufgebracht ist und dass er es eigentlich gar nicht so meint... gar nicht so meinen kann. Wir wissen das aus einer bestimmten Gewissheit, die uns die Kraft gibt, dem Drang zu widerstehen, diesem Ansturm, doch einen Widerstand entgegenzubringen. Jener Gewissheit, die der Erinnerung entspringt, dass es uns ja auch schon mal so ergangen ist. Dass wir ja durchaus auch schon mal ungerechtfertigt oder überzogen reagiert haben. Und das wir es im Grunde (aber das merkten wir immer erst hinterher) ja auch nicht so gemeint haben... dass es uns Leid tat.

Diese Durchlässigkeit kann man auch mit einem schönen, aber leider oft verkannten Wort beschreiben: Gleichmut. Es heißt im Einzelnen: Mut zum Gleichen haben. Mut haben, die Dinge / die Menschen als gleich(gültig) anzusehen. Zu erkennen: Der andere ist nicht besser oder schlechter als ich. Auch wenn er jetzt z.B. ungerecht ist, hat er seinen Weg, seine Erfahrungen hinter sich, die ihn in diese Lage geführt haben. Natürlich mit seinem Zutun - aber trotzdem. Wenn wir uns in seine Lage versetzen... wer weiß, ob wir (mit seiner gesamten Vorgeschichte) nicht genauso gehandelt hätten.

Oft wird dieser Gleichmut - dieses durchlässig sein - als Gleichgültigkeit im Sinne von Gefühllosigkeit oder Teilnahmslosigkeit missverstanden. Was nur natürlich und verständlich erscheint, bedenkt man, wie (selten) seltsam diese Nicht-Reaktion auf andere wirken muss...

Ganz interessant fand ich damals in diesem Zusammenhang die völlig neue Interpretation einer weitläufig bekannten Bibelsituation, die sich mir daraus eröffnete. Jeder kennt den Ausspruch... und vielleicht sehen Sie ihn jetzt auch in einem anderen Licht: Salopp ausgedrückt meine ich die Sache mit der Wange... Sie wissen schon.

Schließlich taucht in diesem Zusammenhang auch der Begriff Mitgefühl auf. Und echtes Mitgefühl (im weitesten Sinne auch Liebe...) wird erst möglich, wenn wir uns eben in die Lage des anderen Versetzen können. Wenn wir gleichmütig sein können ohne dabei arrogant / überheblich zu werden. Insofern meine Anregung:

Beobachten Sie sich, wenn Sie das nächste Mal wütende oder zornige Gefühle bei sich bemerken. Versuchen Sie dann so früh wie möglich, sich an diesen Gedankenspaziergang zu erinnern - an die Worte Gleichmütig und Mitgefühl... und vielleicht schaffen Sie es so, sich ein bisschen mehr in die Lage des anderen zu versetzen und über den Dingen zu stehen, statt sich zu Streiten und/oder zu ärgern...


IhrAntonKorduan
Ich wünsche Ihnen
viel Glück und Erfolg dabei!

gedankenspaziergang.de/gs15.htm

22.05.2004 17:47 • #1


M
@
Ich finde deine Ausführungen sehr gut. Möchte jedoch weitere Punkte anführen:

- Kommunikation zwischen Sender und Empfänger
- Trampelpfad verlassen
- Konfliktarten (offen / versteckt)
- weitere Konfliktursachen (z.B. Sach- oder Beziehungsebene)

Meiner Meinung nach bringt nur das Zusammenspiel aller Faktoren eine fast 100 %ige Vermeidung von Konflikten.

;D Mario

27.05.2004 12:21 • #2