Liebe Pauline,
danke Dir sehr für Deine Nachricht, hab sie zweimal gelesen und werde sie auch nochmal lesen, irgendwann zwischendurch im Büro. Sehr berührend, was Du über Deinen Mann geschrieben hast, tut mir sehr leid, dass er jetzt ein Pflegefall ist, das muss sehr schwer sein für Dich. Ja, ich kenne diese verschieden Stadien der Ehe - die Du ganz wunderbar sozusagen phylogenetisch und ontogentisch beschreibst - also einmal in der Entwicklung der Institution als solcher und dann auch die je eigene Ehe zweier Menschen und ihre Konsequenzen für oder gegen die Entwicklung zweier Individuen.
Ja, die Ehe war viele Jahre ein sehr starre auch machtpolitisch genutztes Instrument, bei der auf die individuellen Bedürfnisse wenig Rücksicht genommen wurde. Liebesbeziehungen, Affären, Mätressen, alles das konnte man - je nach Stand und nach Zeitalter - nebenher halten - wenn nicht die Kirche mit ihrem drohenden Zeigefinger auch das letzte bisschen Freude verboten hatte. Nicht zufällig ist ja die Ehe als Idee wie wir sie kennen - als freie selbstgewählte Verbindung zweier liebender Menschen zur Zeit der Emanzipation des Bürgertums entstanden - Friedrich Schlegels Roman Lucinde von 1799, der dieses Ideal pries, war damals noch ein echter Skandal!
Ja, mit der Freiheit des Menschen für seine Ehe fängt auch dessen Verantwortung an: Die hormongesteuerte Phase hält nicht ewig - das hast Du ja sehr schön beschrieben, und dem ist nichts hinzuzufügen. Aber beide Menschen entwickeln sich weiter, und im Idealfall hilft die Beziehung dabei, sich zu entwickeln, in einem schwierigen und immer wieder fordernden Prozess aus Zusammensein und Loslassen können. Nichts ist schlimmer für die Entwicklung und letztlich für das Glück, als wenn man klammert, von dem Verschmelzungsprozess nicht loskommt. Niemand hat das besser beschrieben als David Schnarch in seiner Psychologie der S. Leidenschaft. (wenn man die zuvielen allzu amerikanischen Beispiele überliest, ich empfehle sehr die dahingehend gekürzte Hörbuchfassung).
Aber ich finde wir haben das gut hinbekommen. Ja, es gab auch bei uns Affären, mit denen wir glaube ich, gut umgehen konnten. Wir haben uns immer viel Freiraum gelassen, hatten unsere eigenen Interessen, unsere eigenen Freunde neben dem gemeinsamen Freundeskreis. Aber immer wieder gab es schöne Momente, wir haben zum Beispiele bis vor drei Jahren noch so tolle Urlaube gehabt ,Wandern in Island, Bootsurlaub in den Masuren, und vieles mehr.
Nur die Abende im Bett mit Kerzen, die gab es irgendwann nicht mehr ,obwohl wir sehr freundlich meistens miteinander waren, kaum gestritten haben.
Aber dann ist etwas aus dem Ruder gelaufen, wir konnten nicht mehr zusammen reden, ach ich weiß nicht. Für mich waren über 18 Jahre trotz aller TIefen, die es auch in einer Ehe gibt, glücklich, ich dachte, wir hätten den Wandel, den eine Ehe mit sich bringt, gut hinbekommen, irgendwann käme auch die Zeit wieder für neues intimes Zusammensein, wenn mein Sohn aus dem Haus ist, haben wir immer gesagt, dann haben wir Zeit für Lagerfeuer am Rhein, wieder Tanzen gehen, Nordlichter sehen in Island. Sachen, die wir gemeinsam machen wollten, wenn wir älter sind.
Und nun ist es so weit. Mein Sohn ist aus dem Haus - aber meine Frau auch. In drei Tagen.
Eine neue Liebe, ein neues Abenteuer, neues Glück. Das ist doch ein Geschenk, oder nicht?
Trauere ruhig um eure scheinbar gescheiterte Ehe aber sei auch dankbar für das, was ihr zusammen hattet und immernoch habt: eure gemeinsame Vergangenheit und euren wunderbaren Sohn!
Und dann, mit der Zeit, wirst du lernen, dich auf dein neues Leben zu freuen und es mit beiden Händen zu ergreifen. Ganz bestimmt!
Die Dankbarkeit empfinde ich manchmal, Pauline, für die Zeit, und für meinen Sohn sowieso. Aber alles andere ist für mich zur Zeit kein Trost, wirklich überhaupt nicht.
PS: Danke auch für Deinen zweiten Beitrag! Gibt es nichts zu entschuldigen, ich lese gern, was Du schreibst. Nur hab ich wirklich manchmal Wut, keinen Hass, und der ist auch ein paarmal rausgekommen, letztes Wochenende zuletzt, aber ein paar Stunden später war dann immer wieder gut. Die Schönheit der Trennung vermag ich aber weiß Gott nicht zu sehen derzeit.
Ich bin unendlich traurig.
04.10.2018 07:50 •
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