Tag 106 nach der Trennung.
Wird Zeit für eine kleine Zwischenbilianz. Wenn ich eine Fähigkeit habe, dann ist es das, was ich mir vornehme, durchzuziehen. Ob da Studium ist, ein Sportprogramm, was auch immer. Wenn ich auch manchmal Umwege gehen muss. Selbstdisziplin kann ich.
Und hier im Forum hatte ich mir vorgenommen, die ersten 200 Tage nach der Trennung zu berichten, wie es so geht. Und dann zu verschwinden. Nun, die Hälfte des Wegs ist gegangen.
Zunächst mal danke für Deine schönen Sätze zu Büchners Lenz, e2b! Es ist nebenbei keine Lyrik, sondern eine - meisterliche - Prosaerzählung, über eine winterliche Episode des unglücklichen Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz, zunächst enger Freund Goethes, dann in der Not von diesem schmählich fallengelassen, schließlich dem Wahnsinn verfallen und unglücklich und einsam gestorben.
Und die Erzählung schildert eine kurze wichtige Episode im Unglück an der Grenze zum beginnenden Wahnsinn, wo noch nicht klar ist, wie das Schicksal Lenz´weiterverläuft, es ist noch alles offen, wenn auch nicht viel Anlass zu Hoffnung gegeben ist.
Und Du triffst es natürlich ganz genau, e2b, es ist an dem Punkt, an dem er fühlt und spürt, dass etwas mit seinem Verhältnis zur Welt grundsätzlich nicht stimmt, alles verkehrt läuft und metaphorisch der Wunsch entsteht, alles auf den Kopf zu stellen und dann vielleicht wieder eine richtige Perspektive zu bekommen.
Nun ist das eine Erzählung, keine Dokumentation, als Leser kann man das nachfühlen, wenn man ähnliche Phasen mitgemacht hat, eine zumindest heftige oder auch existentielle Krisensituation, die ja - zum Glück - nicht in den Wahnsinn führen muss. Aber manchmal hilft es, wenn mal solche grausigen Seelen- und Weltzustände in guter Literatur gespiegelt bekommt, um sich selbst kennenzulernen, weil es dabei manches an sich selbst und an der wirklichen Welt, in der wir stecken zu entdecken gibt. Das ist jedenfalls meine Vorstellung vom Sinn von guter Literatur. Deshalb bin ich vielleicht nicht wahnsinnig aber lese und schreibe manchmal auch wie ein Wahnsinniger.
Und immerhin - hier bei uns ist es jetzt sehr winterlich kalt geworden. Ich gehe zwar nicht durch´s Gebirge, aber öfter durch die Winterlandschaft in unserer kalten Stadt. Und - wenn ich schon bei Büchner und der Zeit, der Epoche der Romantik bin: Diese Epoche hat sich ja poetisch dadurch ausgezeichnet, dass in ihr die völlige Grenzüberschreitung zwischen Ich und Welt (Fichte) oder der Natur und dem Geist (Schellings Naturphilosophie) und deren Einheit und der Sehnsucht nach unendlicher Erweiterung ein großes Thema ist. Und das führt u.a. dazu dass in Erzählungen und besonders in der Lyrik dieser Zeit die Naturzustände und inneren Zustände immer wieder gespiegelt werden. Oder anders ie Natur wird zum poetischen Bild für den Zustand der Seele.
Ja, und auch ich finde gerade - ich bin ja sowieso Romantiker - dass derzeit die Natur sehr gut meine Seele wiederspiegelt. Meine Trennung liegt jetzt lange genug zurück, dass sich die Verhältnisse äußerlich soweit normalisiert haben. Es sind neue Alltagsroutinen eingekehrt. Es ist ruhig geworden aber sehr, sehr kalt. Das Leben hat sich in die Tiefe zurückgezogen. Der Boden ist sehr sehr hart, aber zumindest bietet er Trittsicherheit. Es ist nicht glatt.
Vieles hat sich verändert: Das Leben meines Sohnes geht seinen Gang , er scheint zufrieden mit seinem Studium. Meine Frau scheint zufrieden mit ihrer neuen Lebenssituation, jedenfalls erzählt und vermittelt sie mir nichts anderes. Unser Verhältnis ist auch ruhig, nicht stürmisch, aber auch irgendwie kalt und leblos geworden.
Und auch meine Wohnung: Ich bin nicht mehr so oft da, weil ich viel mache in meiner Freizeit. Aber alles ist gut in Schuß, aufgeräumt, die größeren Gesellschaften und Partys, die wir früher so oft gemacht haben, legendär war immer unsere 1-Tag-nach-Weihnachten-Schluß-mit-der-Besinnlichkeit-Party bis zum frühen Morgen, die gibt es nicht mehr.
Ich treffe Freunde meistens irgendwo draußen. Besuch bekomme ich selten, wenn, dann meistens nur eine Person. Es ist ruhig und still auch in meiner Wohnung geworden, aber sie ist immer noch schön und gemütlich, nur eigentlich zu groß für mich. Die große ziemliche hippe Küche zum Beispiel scheint immer noch nach den vielen Gästen zu rufen um zu zeigen, was doch in ihr steckt. Schließlich haben wir ja vo gerade mal vier Jahren groß umgebaut, zur Freude meiner Frau, die tatkräftig die Wohnung für unsere Zukunft da noch geplant hat.
Die Romantiker zeichnet es auch aus, dass sie keinen wirklichen inneren Halt in sich finden, oder anders: Sie finden ihn nur im Werden, im schöpferischen Immer-neu-sich-ausprobieren, Schritt für Schritt, und neues wieder verwerfen und als Schritt zur weiteren angestrebten nie erreichbaren Vollkommenheit nur zu benutzen, bis ins nie erreichbare Unendliche. Das ist zwar tragisch, aber auch sehr schön und poetisch. Friedrich Schlegel nannte das für die Literatur als poetisches Programm progressive Universalpoesie. Die Kehrseite davon ist, dass es die Protagonisten der Romantik rastlos macht, immer weiter und weiter und weiter auf der Suche. Auch Religion gibt nur insofern halt, als es poetisch verwandelt die Seele immer weiter treibt auf der Suche nach der blauen Blume ,wie Novalis das im berühmten Bild in seinem Heinrich von Ofterdingen im ewigen Traum der Romantik beschrieben hat. Was immer diese blaue Blume ist. Es kann auch ein Engel sein, Mayla.
Und ich hatte das große Glück, dass ich lange Zeit mit einer Frau verheiratet sein durfte, der es über weite Strecken unserer Ehe gelang, mich zu erden. In den besten Zeiten unserer Ehe hatte ich eine wunderbare Ruhe verspürt, einen inneren Halt, den ich so nicht kannte. Eine gefühlte innere Sicherheit, ein Fundament, von dem aus, wie ich dachte, alles mögliche Gute daraus werden kann.
Nun ist es vorbei. Und auch schon - nicht erst seit dem Ende, schon vorher, aber seit dem Ende besonders - ist auch meine innere Rastlosigkeit wieder da. Dennoch bin ich dankbar dafür, dass ich diese Zeit mit meiner Frau erleben durfte, mit allem dem vielen Schönen, unserem Sohn vor allem. Ich glaube, das war was ganz Einmaliges. Und deswegen kann ich nicht wirklich und nicht auf Dauer Wut empfinden, trotz dem vielen Schlamassel, und deswegen werde ich von ihr nie anders als von meiner Frau sprechen, was immer auch passieren wird.
Zitat von e2b:Alles Dinge, die ich theoretisch von jedem x-beliebigen Menschen bekommen könnte oder mir zum Teil auch selbst geben kann. Die Gewohnheit aber lässt einen die Dinge von genau diesem Menschen vermissen. Denn das ist vertraut, das kennt man und das will man wieder haben.
Ich muss mich aber auch fast schon zu der Ansicht zwingen, dass ich mich niemals in den Menschen, der sie jetzt ist, verliebt hätte. Ich sehne mich nach der vergangenen Version von ihr, aber diese Person gibt es einfach nicht mehr.
Und das wollte ich jetzt hier einführen, weil es passt und ich es nicht besser an dieser Stelle ausdrücken kann. Auch meine Frau ist ein anderer Mensch geworden, für mich zumindest ganz anders, als sie früher war. Und deshalb glaube ich auch nicht ,dass wirklich ein Weg zu ihr zurück führt. Das wäre ein großes Wunder.
Nun habe ich Freunde, die mir zu so Sachen wie Dating-Portalen raten. Das ist mir so fremd und auch zuwider, mich so nach marktwirtschafltichen Gesichtspunkten für Geld anzupreisen, zu konkurrieren, mich besser als andere darzustellen. Never ever.
Es war ein großes Glück, dass es eine Zeitlang so funktioniert hat. Es wird nie wieder so sein:
Zum Gefühl des Winters gehört auch dazu, dass es ewig so bleiben wird. Auch die Zeit ist wie eingefroren. Warm anziehen, Tee trinken und träumen vom Sommer, der so weit zurückliegt. Eine ferne wehmütige zartbittere Erinnerung. Große Gefühle, auch die frieren im langen Winter ein.