Hallo Leute!
Schreib hier mal was zu diesem Thema,das doch hier auch oft ne Rolle spielt und da jeder hier weiß,das Ich Augenoptiker bin auch recht passend! ;D
Ist von Johannes Mario Simmel und wohl sehr bezeichnend für die inneren Ängste vorm alt und unattraktiv werden.!
Zwei Dioptrien rechts, zweieinhalb Dioptrien links, sagte der Arzt. Er ging
von der großen Tafel mit den Buchstaben und Zahlen fort zu seinem Schreibtisch
zurück. Dabei kam er an der Frau vorbei, die der Tafel gegenüber saß. Die Frau
war schlank und groß, sie trug ein graues Kostüm, und ihr schwarzes Haar war
kurzgeschnitten. Nun nahm sie die Probebrille ab, die der Augenarzt ihr auf-
gesetzt hatte, und blinzelte: Was heißt das, zwei und zweieinhalb Dioptrien,
Herr Doktor?
Sie sind weitsichtig, gnädige Frau. Sie müssen eine Brille tragen.
Eine Brille ... Die Frau zuckte zusammen. Das ist ja furchtbar! Sie sah
aus, als wollte sie zu weinen beginnen. Ich kann doch keine Brille tragen!
Unsinn, sagte der Arzt und lächelte. Erstens geht es um ihre Gesundheit,
zweitens sehen Sie ohne Brille nicht mehr genug, und drittens gibt es jetzt
sehr eleganten und schöne Brillen! Ich schreibe ihnen gleich ein Rezept für den
Optiker aus. Ihr Name, bitte?
Lucie Wiegand, sagte die Frau. Sie sah abwesend und traurig aus.
Ihr Alter?
Neununddreißig. Lucie neigte sich über den Schreibtisch.
Geht es denn nicht anders, Herr Doktor? Muß ich denn eine Brille tragen?
Warum wehren Sie sich so dagegen?
Weil ich neununddreißig bin!
Na und? Sie sehen aus wie zweiunddreißig!
Danke, Herr Doktor. Lucie sagte leise: Ich bin aber verheiratet. Und mein
Mann sieht nicht nur aus wie zweiunddreißig. Er ist zweiunddreißig.
Ich verstehe, sagte der Arzt.
Mein Mann ist sieben Jahre jünger - und er trägt keine Brille, Herr Doktor.
Ich ... liebe meinen Mann. Ich hatte immer ein bißchen Angst in meiner Ehe ...
wegen des Altersunterschiedes ... aber es ging gut ... bis heute ging alles
wunderbar!
Der Augenarzt klopfte dreimal auf die Schreibtischplatte, und Lucie klopfte
dreimal auf die Schreibtischplatte, und dann sagte sie gramvoll: Weit-
sichtigkeit ist ein Alterserscheinung
Das ist nun ein noch größerer Unsinn, sagte der Augenarzt und lächelte, so
etwas will ich aus Ihrem Mund nicht mehr hören! Wenn Ihr Mann Sie bis heute ge-
liebt hat, dann wird ihn auch die Brille nicht stören! Im Gegenteil, sie wird
ihm gefallen! Sie sind ein bezaubernden junge Frau. Ich würde Sie mit und ohne
Brille verehren. Wie lange sind Sie verheiratet?
Elf Jahre.
Na bitte! Bedenken Sie, wie aufregend es für Ihren Mann sein wird. Sie in
vielen Situationen plötzlich mit einer Brille zu sehen.
Jetzt lachte Lucie Wiegand. Sie sind nett, Herr Doktor, sehr nett.
Lucie ging vom Arzt zum Optiker. Die Brille war am gleichen Abend fertig. Als
Walter Wiegand heimkam, reif er nach seiner Frau.
Lucie, Liebling! Wo bist du?
Zwei Arme legten sich von rückwärts um ihn. Sie flüsterte:
Erschrick nicht, wenn du die umdrehst, mein Herz...
Er drehte sich um und sah die modisch geschwungene schwarze Hornbrille in
ihrem Gesicht. Er holte tief Atem.
Schrecklich, nicht? fragte Lucie angstvoll.
Schrecklich? sagte er. Ich bin begeistert! Du siehst so schön aus wie noch
nie! Außerdem hast du doch in der letzten Zeit in der Nähe nicht mehr richtig
gesehen ...
Eben!
Und jetzt wirst du wenigstens deutlich erkennen können, was ich heute entdeckt
habe. Er neigte den Kopf.
Schau mal, über dem Ohr.
Sie sah genau hin. Dann sagte sie gerührt: Ein graues Haar...
Das erste, sagte er. Liebling, ich werde alt.
Aus: J. M. Simmel: Zweiundzwanzig Zentimeter Zärtlichkeit und andere Ge-
schichten aus dreiunddreißig Jahren. Locarno 1979, S. 276-277.
06.11.2004 10:54 •
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