Ich bin gerade in Schreiblaune und habe Zeit, verzeih mir, liebe Anna, wenn ich nun doch ein bisschen mehr von mir erzähle. Vielleicht findest du dich darin wieder.
Ich bin eine Frau, die nie sehr viel Selbstwert hatte. Das liegt wohl zum großen Teil an der autoritären und abwertenden Erziehung besonders durch meinen Vater, dem ich nie gut genug war. Außerdem war ich unsportlich, kränklich und hatte viele Schönheitsfehler, die bewirkten, dass ich bei Jungs nie viel Erfolg hatte. Meinen Mann lernte ich mit 19 Jahren kennen. Es war keine Liebe auf den ersten Blick oder so. Es war vielmehr der Wunsch, nun endlich auch mal einen Freund zu haben und eine Beziehung zu führen. Unromantisch, ich weiß! Dennoch entwickelten sich Gefühle, die immer stärker wurden. Er war gut zu mir und er tat mir gut. Auch ich war für ihn die erste richtige Freundin und wir entdeckten zusammen eine neue Welt und - nicht ganz unwichtig - die Se xualität. In seiner Familie fühlte ich mich sofort sehr wohl. Er hat viele Geschwister, die mich problemlos in ihrer Mitte aufnahmen und auch das gefiel mir sehr gut. Er wurde von meiner Familie dagegen strikt abgelehnt. Zuerst nur von meinen Eltern, dann aber auch von meiner Schwester und der restlichen Verwandtschaft. Meine Eltern taten 2 Jahre lang alles um uns auseinander zu bringen und scheuten auch nicht davor zurück, Onkel, Tanten, Cousinen alle dazu mit ins Boot zu holen. Ich hielt an meinem Mann fest, jetzt erst Recht. Nachdem wir zusammen gezogen waren, gaben meine Eltern ihren Widerstand auf. Und sie gaben mich auf. Wir pflegten einen höflichen distanzierten Umgang. An meinem Leben nahmen sie nur noch am Rande teil. Ich wurde zum Fremdkörper in meiner Familie. Unbewusst gab ich meinem Mann die Schuld daran, merkte das aber noch nicht.
Wir heirateten, ich wurde sofort schwanger. Leider war unser Kind nicht ganz gesund. Ich gab meinen Beruf auf, um ganz für unser Kind da zu sein. Seine Erkrankung war nicht lebensbedrohend aber sie begleitete uns bis zu seiner Pubertät. Ich wünschte mir ein zweites Kind. Mein Mann war strikt dagegen. Er hatte Angst. Dennoch überredete ich ihn, es zu versuchen. Leider klappte das nicht mehr. Ich war gesundheitlich zu sehr angeschlagen, um eine weitere Schwangerschaft zu durchzustehen. Es folgte eine OP nach der das auch nicht mal mehr theoretisch möglich war. Meine Mutter erkrankte und in dieser Zeit kam ich ihr wieder näher. Leider nur ihr, mein Vater blieb abweisend. Sie starb nach 4 Jahren qualvoll. Ich schaffte es nicht, bis zum Ende bei ihr zu bleiben und dafür verachtete mich mein Vater noch mehr. Er suchte sich schon kurze Zeit nach ihrem Tod neue Freundinnen und blieb mir fremd. Nur dadurch, dass ich die anderen Frauen ohne Klagen akzeptierte, konnte ich bei ihm punkten. Dann erkrankte auch er, lehnte meine Fürsorge aber vehement ab. Nur meine Schwester und seine Freundin ließ er an sich heran.
Mein Mann spürte meine Verzweiflung, konnte mir aber nicht wirklich helfen. Das wollte ich auch nicht, denn er war ja der Auslöser meines Unglücks. Ich stürzte mich in meine berufliche Selbstverwirklichung und blieb dabei zunächst erfolglos. Mein Mann, sah, dass ich mich dabei völlig aus den Augen verlor und aus Sorge versuchte er mir Grenzen zu setzen. Ich aber ließ die potentiellen Arbeitgeber gewähren, nur um endlich die Anerkennung zu finden, die ich so sehr vermisste. Dabei ließ ich mich total ausnutzen und beschimpfte meinen Mann als Weichei und typischen Beamten (was er nicht ist). Inzwischen starb mein Vater, es folgte ein Erbschaftsstreit mit meiner Schwester und ich versagte bei dem Versuch einer Umschulung. Anstatt mich aber zu sammeln und mir Zeit zur Verarbeitung zu geben, stürzte ich mich sofort in das nächste berufliche Abenteuer. Dies glückte endlich - mehr oder weniger - ich bekam eine befristete Stelle im ersten Arbeitsmarkt. Dort traf ich auf meinen Chef und das Unglück nahm seinen Lauf. Diesem Mann öffnete ich nun endgültig Tür und Tor, nur um endlich die Liebe, Anerkennung, Zärtlichkeit zu bekommen, die ich so vermisste. Es mündete in diese unsägliche Affäre. Alles weitere kannst du dir denken, Anna.
Es folgte ein halbes Jahr der Hoffnung, nur um dann noch viel mehr gedemütigt und erniedrigt zu werden, als ich es je für möglich gehalten hätte. Ich wechselte den Job mehrmals und bin jetzt nur noch geringfügig beschäftigt. Alle meine Energien sind aufgebraucht und ich bin tief in der Depression. Erst seit einigen Wochen geht es mir besser. Ich bin krank geschrieben, vordergründig, wegen einer orthopädischen Operation und finde nun endlich die Zeit und die Muße, die Dinge neu zu sortieren. Mit Hilfe meiner Therapeutin spüre ich langsam eine Besserung, manchmal sogar wieder so etwas wie Lebensfreude. Ich schmiede Pläne, will ein neues Hobby erlernen und will an meiner Gesundung arbeiten. Leider bin ich körperlich sehr aus der Form geraten und muss dringend etwas daran tun. Gestern nun geriet ich an einen Physiotherapeuten, der seine Machtposition ausnutzte um mich mehr als nötig zu betatschen. Zuerst gefiel mir das sogar auf perverse Weise. Heute ist mein Entsetzen darüber groß. Es hat mir gezeigt, dass manche Männer wirklich vor nichts zurück schrecken und dassS exualität viel mit Macht und Machtmissbrauch zu tun hat. Frau muss dafür noch nichtmal Modelmaße haben, sondern einfach nur die falschen, bedürftigen Signale aussenden. Zum Glück gehen bei mir inzwischen sämtliche Warnsignale an in solchen Situationen. Und ich werde handeln und diesen Physio künftig ablehnen. Ich muss mich selbst schützen und an die Hand nehmen, so wie es eigentlich meine Eltern hätten tun sollen. Die sind aber schon lange nicht mehr da. Schutz erfahre ich in meiner Famile durch meinen Mann, meinen Sohn und die weitere Verwandtschaft, die mich so nimmt, wie ich bin. Darüber bin ich so glücklich und erleichtert, dass ich abwechselnd heulen und lachen könnte.
Ich hoffe, ich habe dir ein bisschen Input geben können. Wie du siehst, gehe ich mit mir und meiner Geschichte ziemlich schonungslos ins Gericht. Das ist aber notwendig, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Rosa Brillen versperren die Sicht!
Sorry, dass ich deinen Thread heute für meine Zwecke genutzt habe. Vielleicht kannst du aber die eine oder andere Erkenntnis daraus für dich ziehen. Manchmal ist es nämlich hilfreich, den Blick zu weiten und nicht nur die Affäre und Ehe zu betrachten. Wie war dein Elternhaus und was hat es aus dir gemacht? Auch das gehört in die Betrachtung mit rein und dabei kann ein Therapeut wertvolle Hilfe leisten.
Alles gute
Lilli
10.07.2018 11:27 •
x 4 #380