Schneemannmärchen – Wie der schmelzende Schneemann sein Lachen wiederfindet
„Du störst, Sonne!“, beschwerte sich der Schneemann, der neben der Tanne am Rathaus seinen Platz hatte. „Deine Strahlen sind lästig. Sie bringen mein Gewand in Unordnung.“
Er strich ordnend über die Falten seines Schnee-Mantels und setzte seinen schwarzen, herrschaftlichen Zylinder, der etwas in Schieflage geraten war, wieder gerade.“
Die Sonne lachte. „Schau nur weiter so vergrämt in den Tag hinein, weißer Kerl! Schneemänner mit Ärgerfalten umarme ich am liebsten. Ha ha!“
Ärgerfalten? Unverschämtheit!
Erzürnt knurrte der Schneemann der Sonne, jener hitzigen und unangenehm dauerfröhlichen Kreatur, ein ungnädiges „Verschwinde! Weib!“ zu.
„Gleich!“, gurrte die Sonne. „Gleich wird mich mein Weg hinter das Dach der Kirche führen und von dort kann ich dich leider nicht mehr sehen und auch nicht mehr besuchen. Für einen Abschiedskuss aber reicht es noch.“
Wieder umfing sie den Schneemann mit herzlicher Wärme.
Die Mundwinkel des schönen Schneemannes neigten sich noch mehr nach unten, die Stirnfalten gruben sich noch etwas tiefer in sein Schneemanngesicht ein … und der Zylinder rutschte dem armen Kerl bis über die Augen.
„Bis morgen, lieber Freund! Und träume etwas Schönes! Von mir. Ha ha ha!“
Noch lange hörte der Schneemann das Lachen der Sonne hinter dem Kirchdach.
„Bis morgen!“, seufzte er leise und blickte über seinen Bauch. Abgenommen hatte er wieder. Von Tag zu Tag wurde er dünner. Was auch konnte er dagegen tun? Nichts. Der Schneemann ließ den Kopf tief hängen … und trauerte.
So stand er noch in der Nacht, als der Mond seine Runde übers Städtchen drehte, und dem gefiel die Sache gar nicht.
„Schon wieder einer“, murmelte er und weckte den Schneezauberer Willi Schnifix mit einem Mondstrahl.
Wenig später stand Willi vor dem trauernden Schneemann.
„Hallo! Rot macht fröhlich“, sagte er und band ein leuchtend rot-weiß-kariertes Tuch um des Schneemanns Hals. „Und nein, du musst mir nichts sagen. Ich kenne deinen Kummer, denn damit bist du nicht alleine. Frau Sonne ist zur Zeit etwas zu übermütig. Vielen deiner Kollegen hat sie das Schneemannleben schwer gemacht. Aber wollen wir ihr das durchgehen lassen? Nein. Oder? Ach was! Komm einfach mit, weißer Freund!“
Willi Schnifix redete und redete und der Schneemann, froh über diese unerwartete Hilfe, nickte zu allem, was Willi sagte. Er nickte auch noch, als Willi schließlich seinen Zauberstab schwang und einen Zauberspruch aussprach. Und er nickte auch noch, als er sich – in feines Glas gewandelt – im Fenster eines Geschenkladens neben vielen Schneemannkollegen, die ebenso wie er ein rot-weiß-kariertes Tuch um den Hals trugen, wieder fand.
Die gläsernen Schneemänner lächelten ihm zur Begrüßung zu. Da schlich sich das Lächeln auch auf das Gesicht des traurigen Schneemannes zurück. Und ja, er steht noch heute dort und lächelt.
von Elke Bräunling